Kate Millett
Psychische Krankheit – ein Phantom (1)
Wie kann es so weit kommen, dass ein menschliches Wesen mit Ledermanschetten an einen Tisch geschnallt wird und diese Qual und Demütigung stundenlang ertragen muss? Welches Gesetz kann das jemals rechtfertigen? Wo gibt es in unserem hochgeschätzten System von bürgerlichen Rechten und Freiheiten etwas, das einen solchen Vorgang zulassen würde? Wie ist es möglich, dass Menschen durch ein Unterbringungsverfahren all ihre Rechte verlieren? Wieso werden sie durch Gerichtsverfahren unter Psychopharmaka gesetzt, wo für sie doch alles auf dem Spiel steht, sogar ihre Freiheit? Die Gesetzgebung hat kläglich versagt, Anwälte verraten ihre Klienten. Es sind PflichtverteidigerInnen; sie arbeiten – zumindest in den USA – für einen Hungerlohn, kennen ihre KlientInnen nicht und geleiten sie durch Scheinverfahren, in denen alles gegen die Opfer gerichtet ist. In solchen Verfahren beugt sich das Gesetz der Medizin; all das, wofür Rechtsprechung steht – verfassungsmäßige Garantien, Anzweiflung bloßer Behauptungen, Forderung nach Fakten und Beweisen –, wird den Ansprüchen der psychiatrischen Medizin preisgegeben. AnwältInnen verneigen sich vor den PsychiaterInnen, die einzelne Menschen »wahnsinnig« nennen. Der Verzicht auf die traditionelle gesetzliche Verpflichtung zum Beistand ist umfassend.
Bedenken Sie, wie lange Strafverfahren dauern, wie ausführlich dort Beweismaterial eingebracht wird. Denken Sie an die Schwurgerichtsbarkeit, daran, wie lange es gedauert hat, das Prinzip der zwei widerstreitenden Parteien zu etablieren, wie langsam und schrittweise verfassungsmäßige Garantien und Bürgerrechte im 18. und 19. Jahrhundert errungen wurden, die sich im 20. Jahrhundert über die ganze Welt verbreiteten. Alles wird in den paar unkontrollierten Augenblicken eines Unterbringungsverfahrens hinweggefegt.
Wie kommt es, dass der Staat über bestimmte Individuen eine solch außergewöhnliche Macht besitzt? Wo und weshalb hat unser Schutzsystem versagt? Es heißt, diese Personen seien von einer seltsamen, schrecklichen Krankheit befallen, weshalb sie gewaltsam zu behandeln seien. Daher müsse das Gesetz denen dienen, die sich mit dieser Krankheit auskennen. Gesetzliche Bestimmungen seien erforderlich, um Zwang ausüben zu können. Doch die Befugnis, diese Bestimmungen umzusetzen, liegt nicht beim Gesetz oder bei den JuristInnen, sondern bei einer anderen Gruppe von Fachleuten, denen das Gesetz zu dienen habe. Diese müssten ihre PatientInnen einsperren und ihrer Entscheidungsfreiheit berauben, was den ersten Schritt zu ihrer Heilung darstelle.
Lassen Sie uns den Begriff der Zwangsbehandlung einmal näher betrachten. Warum wird behandelt? Wegen merkwürdiger Handlungsweisen, zu lauten Redens, wegen Wut, Stress oder irrationalen Verhaltens, wegen Anstößigkeiten? Offensichtlich beziehen wir uns hier auf das Gesetz, nicht auf die Medizin. Hat diese Person einer anderen etwas zuleide getan, den Frieden gestört, jemanden gewaltsam angegriffen? Zuständig hierfür ist die Justiz. Wie kam die Medizin ins Spiel? Man sagt uns dann, es wurde zwar gegen kein Gesetz verstoßen, aber die Nachbarn beschwerten sich, die Familie sei aufgebracht. Es könnte ein Verbrechen geschehen. Unsere Gesetze erlauben es nicht, jemanden vorsorglich zu verhaften oder einzusperren. Es könnte ein Verbrechen geschehen ... aber tatsächlich wurde keines begangen. Stattdessen geht es um anstößiges Verhalten, lediglich allgemein beschrieben, nicht einmal mit eigenen Augen gesehen. Die Person ist nicht kriminell, sondern Opfer einer seltsamen Krankheit, die nur gegen den eigenen Willen geheilt werden kann. Welche Krankheit könnte es je mit sich bringen, dass die betroffene Person nicht selbst den Wunsch hat, behandelt zu werden? Im Bereich der somatischen Medizin ist Zwangsbehandlung nicht zulässig; das übliche Verhältnis zwischen Arzt und Patient basiert auf Übereinkunft, Kooperation, Unterstützung und Trost. Wesentliches Merkmal einer solchen Behandlung ist die Freiwilligkeit. Die Idee der Zwangsbehandlung ist derart absurd, ist medizinisch, juristisch und moralisch derart schwer zu rechtfertigen, dass man sich auf geheimnisvolle Umstände berufen muss.
Dem Übeltäter bzw. der Übeltäterin soll ein Behandlungsplan aufgezwungen werden. Es gibt ›interessierte Parteien‹ und Angehörige, die ein persönliches Interesse an Kontrolle haben und die für ihr feindseliges Vorgehen gegen den einzelnen auffälligen Menschen sozialen Konsens sowie Billigung und Beistand anstreben. Sie brauchen nur zum Telefon zu greifen. Die Gesellschaft ist dafür gerüstet, einen Menschen zu ergreifen und einzusperren, zu bestrafen und all seiner Rechte zu berauben. Aber noch bedarf es einer ›vernünftigen‹ Erklärung, eines Etiketts, einer Anklage, die ins Gewicht fällt. Verrücktheit genügt all diesen Anforderungen, ebenso wie Ketzerei oder politische Subversion. Gedankenverbrechen.
Zuständig hierfür ist heutzutage die Psychiatrie; sie ist der ausführende Arm sozialer Gewalt, ausgestattet mit staatlichen und polizeilichen Machtmitteln, mit Schloss und Riegel, Psychopharmaka und Folterinstrumenten. Sie verkörpert eine bestimmte Vorstellung, nämlich die Annahme, das Individuum sei Träger einer unsichtbaren Krankheit oder erblichen Belastung, die zwar pathologisch nicht nachweisbar ist, aber von ExpertInnen aufgespürt und unter Anwendung von Zwang geheilt werden kann. Durch allgemeine Zustimmung, Werbung und Propaganda gewinnt diese Vorstellung Oberhand; das Ansehen der Wissenschaft lässt sie glaubwürdig erscheinen, und die Staatsgewalt mit der überwältigenden Fülle ihrer Zwangsmittel legitimiert sie.
Die Psychiatrie, die sich selbst als Teilbereich der Medizin bezeichnet, wird zwangsläufig zum Mittel außergesetzlicher sozialer Kontrolle und staatlicher Macht, mit Befugnissen, die das Recht und all seine Garantien für das Individuum außer Kraft setzen, vielleicht sogar dem Gesetz widersprechen. Die garantierten Rechte, Ergebnis einer Jahrhunderte währenden Entwicklung, werden in bestimmten Fällen aufgehoben. Der Staat erlaubt der Familie, ihr Objekt der Unterdrückung selbst zu wählen. Als Bevollmächtigte des Staates bedient sich die Familie wiederum der Psychiatrie, denn das letzte Wort hat der Psychiater. Wollen Sie eine Verwandte einsperren, so müssen Sie immer noch einen gefälligen Arzt finden – letztlich entscheidet er. Die Tatsache jedoch, dass Familien ein Opfer präsentieren können, ist allein schon erstaunlich, eine informelle soziale Kontrolle.
Wir alle glauben doch an diese geheimnisvolle Macht, diese Krankheit, diese psychische Störung. Es kann passieren, dass Ihr Verstand einfach aufgibt, Ihre Gefühle Sie überwältigen, Sie einer konstitutionellen Schwäche unterliegen. Unsichtbare Kräfte zwingen Sie in die Knie. Und der Glaube ist alles. Glaube versetzt Berge. Man muss ihn nur ausweiten und propagieren, institutionalisieren, finanzieren, bürokratisieren, in einen blühenden Industriezweig verwandeln – Spender von Hunderttausenden von Arbeitsplätzen und ›Diensten‹.
Das System würde ohne Zwang nicht funktionieren. Wie jedes System sozialer Kontrolle basiert es letztlich auf roher Gewalt. Es gründet auch auf einer Ideologie. Hier ist die Ideologie – das medizinische Modell psychischer Krankheit – eine Perversion von Vernunft und Wissenschaft. Viele PsychologInnen und PsychoanalytikerInnen stimmen vermutlich der Auffassung zu, dass es sich beim medizinischen Krankheitsmodell um eine irreführende Analogie handelt, denn sie gehen davon aus, dass psychisches Leiden von Konflikten des Individuums mit seinem Umfeld herrührt, ob sie nun durch die persönliche Geschichte oder die gesellschaftlichen Verhältnisse bedingt sind. Mit anderen Worten, das Leben ist nicht leicht. Der Tod ist nur schwer zu verkraften, ebenso Trauerfälle, das Ende einer Liebe, vergebliche Liebesmüh, schwere wirtschaftliche Zeiten, Verlust des Arbeitsplatzes, verpasste Chancen, die verbitternde Anhäufung von Enttäuschungen aller Art. Dies ist ein Wirklichkeitsmodell, welches von Tatsachen ausgeht.
Das medizinische Modell dagegen hat keinerlei Bezug zu irgendeiner Realität, es ist nicht einmal medizinisch, obwohl es vom Ansehen der Körpermedizin profitiert und die Existenz physischen Leidens nutzt, um uns an der Nase herumzuführen und einen allgemeinen gesellschaftlichen Konsens zu erzwingen, legal oder am Gesetz vorbei. Letzten Endes handelt es sich um einen gesellschaftlichen Mythos, der über den Akt des Unterbringungsverfahrens sowohl dem Staat als auch der Psychiatrie enorme Macht überträgt.
Es gibt kaum Länder, in denen nicht formell oder informell, öffentlich oder privat die Vorstellung von der Existenz psychischer Krankheit und deren Pendant der psychischen Gesundheit Bausteine des Glaubenssystems geworden sind. Psychische Krankheit ist ein Haushaltstitel der Regierung, ein Ministerium, eine Verwaltungsabteilung, eine Unterabteilung jeder Bürokratie auf bundesstaatlicher, Länder-, Kreis- und kommunaler Ebene.
Einige Menschen stellen sich vor, dass psychische Krankheit wie eine Lungenentzündung diagnostiziert werden kann, epidemisch wie AIDS auftritt und wie Krebs potentiell erkennbar und irgendwann auch heilbar sein wird. Unsere gemeinsame Überzeugung von der Existenz psychischer Krankheit ist mysteriös und wunderlich. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts und nach mehreren Jahrhunderten wissenschaftlicher Entdeckungen und dem Triumph wissenschaftlicher Erkenntnisse bleibt sie durch und durch glaubensbedingt und unwissenschaftlich. Wir glauben einfach daran, ohne jeden Beweis für das, was wissenschaftlich unter Krankheit zu verstehen ist. Damit meine ich die Pathologie. In der Medizin gibt es keine Störung oder Erkrankung ohne Pathologie, und pathologische Veränderungen sind etwas, was beobachtet und nachgewiesen werden kann. Körpermedizin und Wissenschaft überhaupt beruhen größtenteils auf Beweisen. Es gibt Erreger, es gibt Bluttests, es gibt Antikörper, es gibt Schwellungen und Körperflüssigkeit, es gibt Ödeme und Zelldeformation. Es gibt Erkrankungen des Gehirns und des Nervensystems, deren Existenz nachgewiesen werden kann: Tumore, Lähmungen, Alzheimerkrankheit, Chorea Huntington. Dies sind wirkliche Krankheiten, tatsächlich nachweisbar.
Wenn wir jedoch von psychischer Krankheit sprechen, meinen wir eine Vielzahl sogenannter Krankheiten, für die keine pathologischen Vorgänge nachgewiesen sind, auch wenn man schon über hundert Jahre an sie glaubt. Schizophrenie ist die bedeutendste psychische Krankheit, gefolgt von manisch-depressivem Irresein. Gleichzeitig ist man sich selbst unter Psychiatern über deren eigentliche Existenz nicht immer einig. Und innerhalb der klassischen Psychologie fällt der Nachweis von Krankheiten oder Störungen auch nicht leichter, denn es gibt in der Psychologie kein Verfahren, mit dem man Krankheiten nachweisen kann. Es gibt nur das Verhalten.
Jemanden für psychisch krank zu erklären, weil er bzw. sie auf eine bestimmte Art handelt oder sich verhält, ist etwas völlig anderes, als eine Krankheit festzustellen, für die es physiologische Anhaltspunkte gibt. Verhalten als Indiz für eine Krankheit ist kein objektiver Tatbestand – es ist darüber hinaus auch deswegen subjektiv, weil Verhalten eine Sache von Beobachtung und Interpretation ist. Kurz gesagt, was für den einen Menschen verrückt ist, ist für den anderen erklärbar, ja sogar vernünftig. Was dem einen abscheulich ist, hält der andere lediglich für schlechte Manieren, und ein Dritter mag das Verhalten sogar witzig finden. Das Urteil hängt davon ab, wer beobachtet, mehr noch von der Haltung, die der Beobachtung zugrunde liegt: Eigennutz, Boshaftigkeit, ein Hang zur Zwangsausübung, Wut, Missbilligung, das Bedürfnis andere zu kontrollieren, zu strafen, zu erniedrigen.
Mit der Lungenentzündung ist es anders: Wir haben sie oder wir haben sie nicht. Und wenn wir sie haben, wollen wir eine Behandlung. Wenn wir beschuldigt werden, psychisch krank zu sein, stehen wir unter Anklage, sind Opfer einer Verleumdung, sind in Verteidigungsposition und unfähig, uns selbst zu verteidigen gegen einen Vorwurf, dessen pure Existenz unsere Schuld beweist. Anders bei der Lungenentzündung: niemand wird vorgeladen, um die Erkrankten vor Gericht anzuklagen und einen Richter davon zu überzeugen, dass die PatientInnen schuldig sind, da sie voller Keime stecken. Wir werden nicht isoliert und vor FreundInnen gedemütigt, verlieren nicht die Arbeit und das Sorgerecht für die Kinder. Lungenentzündung tut keinem Menschen so etwas an.
Die Vorstellung von psychischer Krankheit ist simpel: Man nehme psychisches Leid als Beweis für eine Krankheit, auf die nur eine hochspezialisierte und gutbezahlte Gruppe von Heilern – fast schon eine Priesterschaft – einwirken kann. Und man sei nicht sparsam mit drastischen Maßnahmen. Man benutze Psychopharmaka, Grausamkeit und Schrecken, Einkerkerung und elektrischen Strom für das Gehirn. Bloße Gesprächstherapie ist zu einfach, so wie auch Gespräche, Freundschaft oder Beratung zu primitiv sind, braucht man dazu doch weder Rezept noch Lizenz.
Menschliches Elend, Ungewissheit, Lebenskrisen, die schmerzhaften Prozesse, durch die wir uns voneinander trennen, wachsen, Neues schaffen, uns verändern oder Entscheidungen treffen ... all das sind Zeiten der Verwundbarkeit. Von Seiten unserer Umwelt oder aus unserem Inneren regt sich Widerstand. Wir sind uns unserer selbst unsicher, als Mann oder als Frau, als Liebende, Bruder oder Schwester, Kinder oder Eltern; wir können verwirrt sein, überwältigt, beschämt, eingeschüchtert, geschwächt oder erniedrigt. Ganz besonders dann, wenn wir davon überzeugt wurden, die eigenen Gefühle, Reaktionen und Beweggründe nicht zu kennen, die eigene Urteilskraft unzuverlässig und unsere psychischen Prozesse falsch zu finden. Dann erkläre man das Menschsein an sich zum medizinischen Problem, definiere die Psyche als eine Abfolge von mysteriösen Unwägbarkeiten und behaupte, es handle sich um ein chemisches Konstrukt von unsicherem Gleichgewicht, um ein Rätsel, dem wir ausgeliefert sind. Nur die Psychiatrie kann diese instabile Mixtur in Ordnung bringen – mit Psychopharmaka, deren Wirkungsweise nicht einmal die Doktoren verstehen, von denen sie aber behaupten, dass sie uns nicht schaden.
Wir haben es hier mit Stigmatisierung und Zwang zu tun, mit Staatsgewalt und Kontrolle und mit multinationalen Pharmakonzernen, die bereitstehen, ihre Profite aus der Zwangsverabreichung psychiatrischer Psychopharmaka an die Opfer dieser mysteriösen Krankheiten zu ziehen, und zwar sowohl wenn diese gegen ihren Willen eingesperrt sind als auch nach deren Entlassung, die in Wahrheit nur vorübergehend und auf Probe ist. Freiheit, Leben, Nahrung, Obdach und Beschäftigung hängen allesamt davon ab, ob sich ein Mensch unterwirft und durch die Psychopharmaka stigmatisieren und zu einem Behinderten machen lässt.
Mit diesen Psychopharmaka ist weniger Medizin gemeint, eher Medikation. Diese stellt ruhig, stumpft ab, macht träge oder hektisch, vermindert oder erzeugt Stress, stört die Konzentrationsfähigkeit und verzerrt die Wahrnehmung, verhindert vernünftiges Denken. Sie tut das, was Psychopharmaka eben tun: sie entstellen, aber sie heilen nicht, wie auch, wenn gar keine Krankheit vorliegt. Psychische und emotionale Belastungen und Beschwerden sind nun mal natürliche Bestandteile des menschlichen Lebens und keine Krankheitssymptome.
Peter Breggin (1990) hat eine umfassende Darstellung von Forschungsarbeiten über Schädigungen publiziert, die durch Neuroleptika wie Haloperidol (im Handel u. a. als Haldol, Haloper, Sigaperidol), Chlorpromazin (im Handel u. a. als Chlorazin, Propaphenin), Thioridazin (im Handel u. a. als Melleril) oder Fluphenazin (im Handel u. a. als Dapotum, Lyogen, Lyorodin) verursacht werden – Psychopharmaka, die PatientInnen ›freiwillig‹ nehmen sollen, wenn sie ihre Sozialunterstützung nicht verlieren wollen. Breggin beschäftigte sich mit den Auswirkungen solcher Substanzen auf die höheren Hirnfunktionen, außerdem fasste er Untersuchungen des Hirngewebes sowie Tierstudien zusammen. Er fand heraus, dass neuroleptikabedingte Hirnschäden häufig durch die Wirkung der Psychopharmaka selbst kaschiert werden und daher erst während des Entzugs, wenn der Schaden bereits irreversibel ist, zum Vorschein kommen. Das kann zu lebenslanger Neuroleptika-Einnahme führen. Breggin beschreibt auch, wie psychiatrische Psychopharmaka das Gehirn gewissermaßen schrumpfen lassen und über die kurzfristige Ruhigstellung und Behinderung intellektueller Prozesse hinaus bleibende kognitive (die Denkfähigkeit betreffende) Defizite verursachen. Er nennt die seuchenartige Ausbreitung der neuroleptikabedingten tardiven Dyskinesien (oft irreversible Bewegungsstörungen) eine physisch bedingte »iatrogene (vom Arzt verursachte) Tragödie« und appelliert an die Ärzteschaft, die Verantwortung für die Schädigungen zu übernehmen, die Millionen von Menschen in der ganzen Welt erleiden. Neben Stoffwechsel- und Herz-Kreislauf-Erkrankungen ist bei neu entwickelten Clozapin (im Handel u. a. als Clopin, Elcrit, Lanolept, Leponex)-artigen (›atypischen‹) Neuroleptika wie Zyprexa (Wirkstoff Olanzapin) oder Sertolect (Wirkstoff Sertindol) insbesondere mit tardiven Psychosen zu rechnen: der Verschlechterung oder Chronifizierung von psychotischen Zuständen als Resultat behandlungsbedingter Rezeptorenveränderungen – ein Schaden, auf den Robert Whitaker (2002, S. 253 – 286) und Peter Lehmann (1996, S. 99 – 104; 2003) aufmerksam machen.
Im Gegensatz zum medizinischen Modell respektiert das humanistische und psychologische Modell die Menschenrechte, insbesondere im Hinblick auf Einweisung und Zwangsbehandlung. Aber dieses Modell ist in unserer Gesellschaft nicht gebräuchlich.
So gesehen wirkt das medizinische Modell sowohl niederträchtig als auch töricht. Es ist eine Laienreligion, aber auch eine massive Bedrohung unserer Rechte ebenso wie unserer Fähigkeit, mit Logik und Verstand solch komplizierte Dinge wie Medizin und Krankheit zu betrachten. Das medizinische Modell lehrt die ursächliche Vorbestimmtheit allen Geschehens: Freiheit und Verantwortung, gut und böse, Wahlmöglichkeit und Vernunft werden von ihm ausgelöscht. Das hat enorme politische Auswirkungen. Wir werden geführt und kontrolliert. Wir werden auf Linie gebracht, korrigiert und geleitet von Sozialbürokratien, der gewaltigen Kreatur der Staates, Anstalten, gemeindepsychiatrischen Einrichtungen oder privaten Kliniken.
Hinter den Vorstellungen von psychischer Gesundheit und psychischer Krankheit steckt eine gigantische Industrie mit Hunderttausenden von Arbeitsplätzen, mit Zuschüssen und Ausgaben, Doktoren, Krankenschwestern und -pflegern, ein totales Überwachungssystem mit geschlossenen Abteilungen und entsprechenden Hilfsmitteln, Sicherheitspersonal und technischen Vorrichtungen, Herstellerfirmen von Gerätschaften für Fixierung, Überwachung und Elektroschocks; schließlich ist da noch die Pharmaindustrie selbst, zusammen mit der Rüstungsindustrie weltweit der größte und ertragreichste Industriezweig. Im Umfeld gibt es Tausende von Zulieferfirmen, Zeitschriften und Bildungseinrichtungen, die Anerkennungs- und Beglaubigungsbürokratie, Aktenverwalter und andere Büroangestellte, Tagungsstätten und Ausbildungszentren, Bauunternehmer und Wartungspersonal, die ganzen Ausstattungsfirmen und Geldgeber, Versicherer und schließlich Rechtsberater und Buchhalter.
Ständig ertönt der Ruf nach mehr Geld, nach mehr Forschung zu psychiatrischen Krankheiten, nach mehr Einrichtungen zur Unterbringung und Absonderung, nach größerem Spielraum bei Einweisung und geschlossener Unterbringung. Gleichzeitig wird mit erbärmlicher Heuchelei die salbungsvolle Bitte vorgetragen, doch mehr Toleranz und Verständnis aufzubringen, wobei noch weitergehende Krankheitsvorstellungen gezimmert werden, dass wir alle mehr oder weniger Keime psychischer Krankheit in uns tragen und einer immer umfassenderen und tiefgreifenderen Behandlung bedürfen.
In all dem stecken so viel Geld und Macht, Arbeitsplätze und Karrieren, dass die Kirche mit ihren sozialen Normen als mächtigste Einrichtung zur Kontrolle der Gesellschaft in den Schatten gestellt wurde. Darüber hinaus sind die psychiatrischen Kriterien gesetzlich abgesichert und juristisch durchsetzbar; das heißt im Unterbringungsverfahren geht es um Freiheit und Gefangenschaft. Dies gilt auch für die Psychiatriegesetze und die Vormundschaft, heute ›Betreuung‹, die einem Individuum die Fähigkeit abspricht, selbstständig persönliche Entscheidungen zu treffen. Alles, was sein weiteres Schicksal betrifft, wird von Dritten entschieden. Eine Person, die der psychischen Krankheit überführt wurde, existiert rechtlich nicht mehr, ihr selbstständiger Status und ihre persönliche Identität sind ausgelöscht: Das betrifft alle Bereiche der Lebensgestaltung und des Selbst.
Der Glaube an eine eingebildete, trügerische Krankheit ist fest verankert. Die sozialen Kontrollmöglichkeiten sind – zufällig oder absichtlich – derart überwältigend, dass ihr Missbrauch nicht etwa ungewollt ist, sondern bewusster Bestandteil des Konzepts. Ergebnis und tatsächlicher Zweck ist die Schaffung zwanghafter sozialer Konformität. Sogar die Inquisition verblasst neben solchen Erfindungen. Es ist nicht leicht, an den Terror heranzureichen, der von elektroschockbedingten Krampfanfällen, von Vierpunktfixierungen und massiven Spritzen verstandestötender Psychopharmaka ausgeht. Dieses System ermöglicht die Anwendung totalen Zwangs und schafft völlige Hilflosigkeit.
Natürlich ummanteln soziale Institutionen im Allgemeinen solche Aktivitäten. Normalerweise sind sie in das Alltagsleben integriert, werden als gegeben hingenommen, als unvermeidbar oder nützlich akzeptiert, als allgemeiner Bestandteil unserer Zivilisation oder gar als Erlösung. Bedenken Sie die Macht und die Struktur der staatlichen Psychiatrie, einer Einrichtung, deren Geltungsbereich, Größe und Komplexität, Ausweitung und Effizienz von internationalem Zuschnitt ist. Bedenken Sie den Einfluss der Psychiatrie in Schulen und Universitäten, in unserem gesamten Beschäftigungssystem, ihren Einfluss auf alle Fragen unserer Gesundheitsversorgung, auf das Wohlfahrtssystem, auf öffentliche Hilfe, staatliche Subventionen, auf das private Miteinander. Vor allem aber bedenken Sie die kulturelle Akzeptanz und die gesellschaftliche Anerkennung der Psychiatrie, die hehren Ziele der ›helfenden Berufe‹, laut sozialem Konsens höchst ehrenwerte und von größter Nächstenliebe geprägte Ziele. Ist deren Mission nicht göttlich, nicht heilig, dann wenigstens vornehm und edel, eine Offenbarung wissenschaftlicher Wahrhaftigkeit, unsere moderne weltliche Religion. Wenn es sich auch um eine Pseudowissenschaft handelt: der Wunsch, daran zu glauben, hat die Suche nach Fakten und Beweisen ersetzt. Behauptungen werden als Tatsachen akzeptiert.
Wie kann eine Einbildung die Macht des Faktischen erlangen? Dadurch, dass die Beherrschten an sie glauben und sie billigen. Wie jeder Aberglaube hat auch dieses System aus Gedankenkonstrukten enorme Macht. Aber da es auf Panzerglas, Schlüsseln und Polizeigewalt beruht, wäre diese Macht auch existent, wenn wir nicht an sie glaubten. Trotzdem bekommt sie durch unseren Glauben noch größeren Einfluss. Gottgleiche Macht hat sie gehabt für uns, die wir physisch und psychisch ihre Gefangenen waren.
Wir sind Überlebende eines der übelsten Unterdrückungsapparate, die je entwickelt wurden, seine Opfer ebenso wie seine KritikerInnen. Wir müssen die Wahrheit erzählen und klarstellen, dass psychische Krankheit ein Phantom ist, sowohl intellektuell als auch wissenschaftlich, aber auch ein System zur sozialen Kontrolle von noch nie da gewesener Gründlichkeit und Allgegenwart. Es ist unsere Aufgabe, dieses Phantom als solches bloßzustellen und uns alle zu befreien – denn wir alle werden vom Phantom psychische Krankheit eingeschüchtert, eingeschränkt und unterdrückt. Wir setzen Vernunft gegen Irrtum und Aberglauben, Phantasie gegen Anpassung und Unterdrückung. Was für ein Glück, an einem solchen Kampf für Freiheit und Menschenrechte teilzuhaben.
Literatur
Breggin, P. R.: »Brain damage, dementia and persistent cognitive dysfunction associated with neuroleptic drugs: Evidence, etiology, implications«, in: Journal of Mind and Behavior, Bd. 11 (1990), S. 425 – 463
Lehmann, P.: »Schöne neue Psychiatrie«
Bd. 1: »Wie Chemie und Strom auf Geist und Psyche wirken«, Berlin: Antipsychiatrieverlag 1996
Lehmann, P.: » :Atypische 9 Neuroleptika, typische Unwahrheiten«
in: Pro Mente Sana Aktuell, 2003, Nr. 1, S. 16 18; online unter http://www.antipsychiatrieverlag.de/artikel/gesundheit/atypische.htm
Whitaker, R.: »Mad in America«,
Cambridge: Perseus Publishing 2002
Aus dem Amerikanischen von Ulrike Stamp und Rainer Kolenda
Fußnote
(1) Dieser Artikel basiert auf einer Vorlesung zum Thema Justiz und Medizin, die Kate Millett 1992 an der Juristischen Fakultät der Law of Queen’s University of Kingston, Ontario/Kanada, hielt. Kate Millett überarbeitete ihre Vorlesung und veröffentlichte sie unter dem Titel »Legal rights and the mental health system« im Queen’s Law Journal, Bd. 17 (1992), Nr. 1, S. 215 – 223. Diese Version ist eine gekürzte und aktualisierte Fassung.
Montag, 11. August 2008
Psychische Krankheit - ein Phantom
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