Donnerstag, 14. August 2008

Die WTO im Griff transnationaler Konzerne

Die WTO im Griff transnationaler Konzerne
von Reinhard Koradi, Dietlikon

Juan Evo Morales Ayma, Präsident der Republik Bolivien, deckt in seinem offenen Brief «Schlacht um die Märkte» die einseitige Interessenvertretung durch die WTO während der Verhandlungen der in Genf gescheiterten «Doha-Runde» auf. An die westlichen Industrieländer stellt er die berechtigte Forderung, ihre exklusiven Zusammenkünfte zukünftig zu unterlassen und die Entwicklungsländer als gleichwertige Partner zu akzeptieren. Dabei zeigt er eine folgerichtige Perspektive auf, indem er fordert, «die Länder müssen dem Konsum der lokalen Produktion Priorität einräumen», um «dem Verbrauch dessen den Vorrang zu geben, was vor Ort produziert wird».
WTO – ein Relikt der Freihandelsdoktrin

Die transnationalen Konzerne haben es in den vergangenen Jahren verstanden, die WTO für ihre Zwecke und Ziele einzuspannen. Nationale Regelwerke und der Grenzschutz behinderten den grenzenlosen Warenhandel. Dabei waren die meisten dieser Handelsvorschriften, Zulassungsbestimmungen und Schutzmechanismen auf nationale Interessen und Bedürfnisse abgestützt und dienten primär der Bevölkerung der einzelnen Nationen. Dazu gehören: eigenständige Wirtschafts- und Ordnungspolitik (zum Beispiel Soziale Marktwirtschaft), soziale Sicherheit, Sicherung der Grundversorgung (Ernährungssouveränität, Energie, Bildung, Gesundheitswesen usw.) sowie die Wahrung der politischen Unabhängigkeit. Die moderne Wirtschaftstheorie spricht in bezug auf diesen berechtigten Schutz der eigenen Bevölkerung von Handelshemmnis und Wettbewerbsverhinderung und fordert deren Beseitigung. Die auf den Binnenmarkt ausgerichteten ordnungspolitischen Bestimmungen sind aber das Spiegelbild nationaler Werthaltungen und des politischen Willens der Bevölkerung und müssten daher von sämtlichen Marktakteuren respektiert werden. Sie schliessen einen grenzüberschreitenden Güter-, Zahlungs- und Personenverkehr auch nicht aus. Die Gestaltung dieses grenzüberschreitenden Handels- und Personenverkehrs war jedoch eine bilaterale Angelegenheit souveräner Staaten. Für die weltweit agierenden Konzerne setzen unterschiedliche Bestimmungen der einzelnen Binnenmärkte Grenzen, die ein differenziertes Geschäftsgebaren abverlangen. Die damit verbundenen Mehrkosten führen zu Gewinneinbussen, die im Rahmen einer Maximierungsstrategie ausgeräumt werden sollen. Daher fordern sie den Abbau aller Handelshemmnisse. Mit der WTO wurde ein Instrument geschaffen, die einzelnen Staaten in internationale Verträge einzubinden und deren Autonomie vorerst im Bereich ihrer Wirtschafts- und Handelspolitik zu brechen.
Da die Märkte der meisten westlichen Industrieländer bereits eine hohe Marktsättigung aufweisen (das mögliche Potential des Marktes ist weitgehend ausgeschöpft), versuchen diese nun, ihre Exporte in die noch weniger entwickelten Länder zu forcieren. Gleichzeitig stellt sich durch den Wettbewerbsdruck – oder genauer durch die Strategie der Gewinnmaximierung – die Frage nach den Produktionsstandorten neu. Die hohen Produktionskosten (Löhne, Umweltschutz, Arbeits- und Produktsicherheit usw.) in den Industrieländern veranlassen die Konzerne, ihre Produktionsstätten in Billiglohnländer zu verlagern. Diese Neuausrichtung der Beschaffungs- und Produktionsstrategie kann aber nur im Rahmen einer globalen, absolut liberalen Wirtschaftsordnung maximale Gewinne abwerfen – da auch ein hindernisloser Export der Produkte aus den Billiglohnländern in die Industrieländer gewährleistet sein muss. Die global ausgerichteten Konzerne haben daher ein enormes Interesse, sämtliche Handelsbarrieren niederzureissen, und spannen die WTO ein, den Widerstand der Nationalstaaten gegen eine globale Wirtschaftsordnung zu brechen.
Die global ausgerichtete Wirtschafts- und Handelspolitik verdrängt die Realität

Die Bilanz der Folgen durch die Globalisierung wird immer umstritten bleiben. Tatsache ist jedoch, dass Armut und Hunger auch mit der Globalisierung weiter Milliarden von Menschen plagen. Wir stellen auch fest, dass in den Industrieländern die soziale Not tendenziell steigt, die Arbeitslosigkeit weiterhin sehr hoch ist und die soziale Ungerechtigkeit sich weltweit ausbreitet. Die Verknappung der natürlichen Ressourcen, die Bedrohung der Umwelt sind weitere Fakten, die uns an die Grenzen der Ausbeutung unseres Planeten erinnern. Wir werden uns früher oder später den natürlichen Rahmenbedingungen beugen müssen, indem wir akzeptieren, dass es keine globale Einheitswelt gibt. Geographie, Klima und Kulturen geben der Welt eine Vielfalt, die sich unter anderem auch in einer unterschiedlichen Ausgestaltung der Wirtschafts-, Handels- und Versorgungspolitik niederschlagen muss. Boliviens Präsident formuliert das so: Die Welthandelsorganisation «müsste die Interessen der Entwicklungsländer respektieren, indem deren Fähigkeit zur Definition und Umsetzung nationaler Politik auf den Gebieten Landwirtschaft, Industrie und Dienstleistungen nicht eingeschränkt wird». Ich würde sogar weiter gehen und bei der WTO die Respektierung der Interessen aller Nationen einfordern.
Schweiz könnte vermitteln

Die Schweiz wäre für eine Vermittlerrolle geradezu prädestiniert. Die politische Kultur, unsere Werte und die Wirtschaftsgeschichte der Schweiz könnten der Schweizer Delegation als Verhandlungsleitfaden dienen. Die vielfältige Branchenstruktur, das feingliederige Netz mit einer guten Durchmischung von grösseren, mittleren und kleineren Unternehmen mit einem hohen Anteil an gewerblichen Betrieben bilden die Grundlage für eine sehr robuste, auf die kleinräumige und regionale Versorgung ausgerichtete Wirtschaft. Eine Wirtschaft, die gerade wegen ihrer Stärke auf dem Heimmarkt die Fähigkeit entwickelte, auch auf den internationalen Exportmärkten erfolgreich zu bestehen. Diese ausgeprägten Stärken der Schweizer Wirtschaft könnten – abgestimmt auf die nationalen Bedürfnisse – anderen Volkswirtschaften als Modell dienen.
Bundesrätin Doris Leuthard bedauerte das Scheitern der WTO-Verhandlungen in Genf und möchte die «Doha-Runde» wiederbeleben und doch noch zu einem Erfolg führen. Dies wird ihr gelingen, wenn sie sich von der Freihandels-Doktrin löst und differenzierte, auf die Bedürfnisse der Länder abgestimmte Lösungsalternativen entwickelt. In seinem offenen Brief zeigt Juan Evo Morales Ayma die Richtung zukünftiger Verhandlungsrunden auf. Warum seine Ideen nicht aufgreifen und nach Lösungen suchen, die letztlich für alle Völker von grossem Nutzen sind? •
Schutz der Menschen statt des Profits
Nutzen wir die Chance der gescheiterten WTO-Verhandlungen!

Man kann sich über das Scheitern der WTO-Verhandlungen in Genf nur freuen. Die Vertreter der USA hatten auf Grund der aktuellen Kampagne zu den Präsidentschaftswahlen nur wenig Spielraum, und das labile Gleichgewicht zwischen den Profiteuren des Nordens und den vielen Verlierern aus den Ländern des Südens haben erfreulicherweise zum Scheitern dieser Verhandlungen geführt.
Trotzdem können wir uns nicht ausruhen, denn wie allgemein bekannt ist, wird die Öffnung der Märkte in grossem Tempo über bilaterale Verträge weitergeführt. Es ist Zeit, eine breite Diskussion über die Mechanismen des Freihandels und ihre Auswirkungen auf die Gesellschaft zu führen. Es ist Zeit, Transparenz zu schaffen und der Bevölkerung mitzuteilen, wer die Gewinner des Freihandels sind. Ich staune immer wieder, wie wenig Kenntnisse über das, was man «Öffnung» der Märkte und der Grenzen nennt, vorhanden sind.
Die Auseinandersetzungen sind so hart, weil es um den Abbau von Zollschranken geht und die Länder des Nordens dafür einen hohen Preis bezahlen müssen und die Länder des Südens einen noch viel höheren. Dieser Zollabbau ist der Motor für die Standortverlegung von Firmen. Die negativen Folgen zeigen sich unter anderem auf dem Arbeitsmarkt und im Finanzsektor. Die wichtigste Auswirkung ist aber die damit verbundene Auflösung des sozialen und wirtschaftlichen Zusammenhaltes im Land. Für ein harmonisches gesellschaftliches Leben braucht es ein soziales und wirtschaftliches Netzwerk, das unserem Leben in der Gemeinschaft einen Sinn gibt. Der freie Markt mit seiner Verlagerung von Firmen in andere Länder zerstört dieses Netzwerk mehr und mehr.
Hoffen wir, dass der Misserfolg der aktuellen «Doha-Runde» dieser gefährlichen Entwicklung einen nachhaltigen Schlag versetzt und eine dem Menschen gerechte wirtschaftliche Entwicklung ermöglichen wird. Hören wir auf, hohe Preise zu kritisieren, ohne uns zuvor zu fragen, wie diese zustande kommen. Niemand stört sich an zu tiefen Preisen, obwohl viele die Sklavenhaltung der Arbeiter in den spanischen Treibhäusern verurteilen. Man kann keine Tiefstpreise erwarten und gleichzeitig ethisch tadellose Produkte fordern. Zollschranken sind nichts Ungerechtes. Sie wurden eingeführt, um die Gesellschaft zu schützen. Vergessen wir nicht, dass hinter jedem Produkt Männer und Frauen stehen, ein Leben, eine Kultur, eine Umwelt – mit Protektionismus schützen wir all dies. Unsere WTO-Vertreter öffnen nicht die Grenzen, sondern sie deregulieren.
Wenn man die Bevölkerung zuvor korrekt informiert hätte, wenn man beim Erklären der wirtschaftlichen Mechanismen von Deregulierung und Zollabbau sprechen würde, wenn man die Wahrheit gesagt hätte, wären wir nicht in diesem Schlamassel gelandet.
So wichtig wie der Rücktritt von Samuel Schmid wäre der Rücktritt von Doris Leuthard. Die Bundesratsfunktion darf nicht einer Person übergeben werden, die bereit ist, die Landwirtschaft und das ganze Land zu verhökern, um spezielle wirtschaftliche Interessen zu befriedigen.
Willy Cretegny, Satigny

PS: Im Nachgang des Referendums gegen die Agrarpolitik 2011 ist nun eine eidgenössische Volksinitiative in Vorbereitung, die auf eine Änderung der Verfassungsartikel zur Wirtschaftspolitik abzielt. Sie stellt den Freihandel in Frage und soll diesen Herbst lanciert werden.
Pressecommuniqué von «La Vrille»
vom 30. Juli 2008

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