Sonntag, 7. Dezember 2008

Der Weg in den Weltfaschismus

Artikel 18: Zeit-Fragen Nr. 28 vom 8. 7. 2002
Der Faschismus in der Weltpolitik ist kein Gespenst mehr
Geschichte und Mitmenschlichkeit verpflichten zum Widerstand
von Karl Müller, Deutschland

Nathan Lewitt, einer der bekanntesten Anwälte der Vereinigten Staaten und aussichtsreicher Kandidat für ein hohes Richteramt, hat vorgeschlagen, die Familienangehörigen palästinensischer Selbstmordattentäter hinzurichten. Da die Täter durch die Todesstrafe nicht mehr abgeschreckt würden, müsse man an drastischere Massnahmen denken. Die gezielten Erschiessungen der Organisatoren des Terrors durch die israelische Armee seien dabei ein erster Schritt. Da in vielen Fällen die Familien der Attentäter sich mit den mörderischen Absichten solidarisch erklärten und zudem in den Genuss von finanziellen Leistungen kämen, müsse man auch sie ins Visier nehmen. Die nächsten Angehörigen der Täter - Eltern und Geschwister - müssten Ziel der Vergeltung sein, wenn man wirkliche Abschreckung wolle. Wenn das Leben Unschuldiger gerettet werden könne, sei die Hinrichtung der Angehörigen legitim. Die historische Rechtfertigung finde sich in der Tora, die von der völligen Ausschaltung der Amaletiker* - einschliesslich der Frauen und Kinder - berichte.

In den USA wurden diese Ungeheuerlichkeiten, die ungebrochen an die nationalsozialistische und stalinistische Sippenhaft anknüpfen, nicht etwa scharf verurteilt, sondern «kontrovers diskutiert».

Zu lesen war auch das Zitat eines US-Soldaten aus Afghanistan nach dem Kampfeinsatz «Operation Anaconda» (vgl. Zeit-Fragen, Nr. 25 vom 17. Juni): «Wenn jemand da war, dann war er ein Feind. Uns wurde besonders aufgetragen, wenn da Frauen und Kinder waren, sollten wir sie töten.» Ein schottischer Journalist hat glaubwürdige Zeugen vernommen, die von massenhaften Massakern an gefangenen Taliban- und al-Kaida-Kämpfern unter Beteiligung von US-Soldaten berichten (vgl. NZZ am Sonntag vom 30. Juni).

Anfang Juli gab der Direktor des einflussreichen Aspen-Instituts in Berlin, Jeffrey Gedmin, ein neokonservativer Demokrat aus den USA, der Zeitung «Das Parlament» ein Interview. Er sprach davon, dass der Krieg notwendig sei, um die Gefahr des Terrorismus «auszurotten», dass die Türkei, Israel, Grossbritannien und die USA diesbezüglich ähnliche strategische Einstellungen hätten, dass Zugeständnisse Israels an die Palästinenser «die Gewalt nur verstärken» würden und dass Israel und die USA demokratische Werte teilen würden, ja, dass die israelische Regierung «moralisch auf einer höheren Ebene» stünde als die arabischen Staaten.

Wer weiter sucht, kann mehr solcher Meldungen finden, die alle in die gleiche Richtung gehen. Mit der gegenwärtigen Macht- und Kriegspolitik wird das Recht schamlos gebrochen. Die Grundlage menschenwürdigen Zusammenlebens wird zerstört. Es gibt nichts zu beschönigen: Machtstreben und Kriegspolitik münden in einen Weltfaschismus.

Pro memoria: Kennzeichen des Faschismus sind ein ethischer Nihilismus, der sich hinter der Propaganda höchster Werte versteckt, die Betonung des «Rechts des Stärkeren» und die Ablehnung des wirklichen Rechts und der Menschenrechte, ein diktatorisches politisches System.

Als Historiker muss ich an die dreissiger Jahre des vorigen Jahrhunderts denken. Die Dämme des Völkerrechts und der Menschenrechte waren gebrochen; die Weltwirtschaft war in der Zwischenkriegszeit, nicht zuletzt aus reiner Profitgier, in eine ihrer grössten Krisen gestürzt worden; Millionen von Menschen in Europa verelendeten und verrohten; Kriege wie in Spanien oder in Fernost wurden mit äusserster Rücksichtslosigkeit geführt und dienten auch der Erprobung neuer Waffensysteme für den grossen Weltkrieg; die Kommunisten warteten darauf, dass sich die kapitalistischen Staaten gegenseitig zerfleischten, nicht ohne dies durch eigene Aktionen, selbst einen strategischen Pakt mit den Nationalsozialisten, zu beschleunigen; Kreise des Finanz- und Grosskapitals hatten alle Skrupel vergessen und unterstützten Faschismus und Nationalsozialismus, solange es ihren Zwecken diente; der britische und der amerikanische Imperialismus rangen miteinander um die Vorherrschaft in der Welt - aber zu viele Bürger gaben sich der Hoffnung hin, die Führer der Staaten würden es schon richten, es werde schon nicht so schlimm kommen; die Stimmen der Vernunft und der Humanität wurden als Schwarzmaler an den Rand gedrängt, ausgegrenzt, ausgeschaltet.

Nach dem Terror der nationalsozialistischen Diktatur und den Millionen von Opfern des Zweiten Weltkriegs haben sich die Deutschen auf besondere Art und Weise verpflichtet, ihre Stimme gegen Diktatur und Krieg zu erheben.

Artikel 1 des deutschen Grundgesetzes lautet: «Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu den unverletzlichen und unveräusserlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt. Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.»

Schüler haben mich vor kurzem gefragt, warum wir denn über die Menschenwürde und die Grundrechte sprechen würden, wenn sich heute doch niemand mehr daran halte. Ich habe ihnen gesagt: «Damit ihr seht, für welche Ideale sich Menschen einsetzen können und dass diese Ideale bei uns Recht und Gesetz sind. Aber das Ganze lebt nur so lange, solange es Menschen gibt, die sich aktiv dafür einsetzen.»

Artikel 20, Absatz 4 des Grundgesetzes lautet: «Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung [gemeint ist die Verfassungsordnung] zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.»
Wie sieht es aus mit der derzeitigen deutschen Politik?

Zielt nicht eine Politik, welche die deutsche Demokratie und die Souveränität des Deutschen Volkes einer undemokratischen und internationalistischen Politik opfert, sei es nun der Hegemonie der EU oder derjenigen der Uno, auf die Beseitigung der Verfassungsordnung? Artikel 21 des Grundgesetzes lautet: «Parteien, die nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen, [ ... ] den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden, sind verfassungswidrig.»

Zielt nicht eine Politik, die das Sozialstaats- und Demokratieprinzip einer Globalisierung opfert, in der das Profitstreben des Grosskapitals nicht mehr das Eigentumsrecht des Volkes achtet, auf die Beseitigung der Verfassungsordnung?

Und zielt nicht eine Politik, die den USA und ihrer Kriegspolitik «uneingeschränkte Solidarität» versichert hat, auf die Beseitigung der Verfassungsordnung?

Was heisst unter den gegenwärtigen Bedingungen ehrliches Bürger-Sein und MenschSein? Das Gefühl, dass Unrecht geschieht, nicht einfach wegstecken, sondern mit dem Mitbürger und Mitmenschen sprechen und diskutieren. Sich auch innerlich mit dem Mitmenschen verbinden. Denn dann wachsen Mut und Zuversicht.

Beispiele suchen, die Mut machen. Ganz bewusst in seiner Umgebung nach Beispielen suchen, die zeigen, dass und wie Bürger etwas bewegen können. Und andere an diesen Beispielen teilhaben lassen.

Gleichgesinnte suchen und selbst aktiv werden. Alle rechtsstaatlichen und demokratischen Mittel nutzen, um unserer geschichtlichen und mitmenschlichen Aufgabe gerecht zu werden, um die Substanz unserer Verfassung, unsere Freiheit und unser Recht zurückzugewinnen und dabei mitzuhelfen, dass alle Menschen in Freiheit und Würde leben können.

*Amaletiker: Nomadenstamm im Norden der Sinaihalbinsel; lebte in stetem Kampf mit den Israeliten


Artikel 18: Zeit-Fragen Nr.28 vom 8. 7. 2002, letzte Änderung am 8.7. 2002

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