Basel-Stadt: Urbane Hybris
Von Urs Paul Engeler
Der Kanton Basel-Stadt ist nichts als Stadt. Das heisst vor allem: hohe Sozialausgaben, drückende Steuerlasten, rot-grüne Mehrheiten.
Zwischen St. Jakob und den Hafenbecken I und II in Kleinhüningen ist die Schweiz nur Stadt, Basel-Stadt. Genf, der andere Stadtkanton, hat ein Hinterland mit 45 Gemeinden und einer beachtlichen landwirtschaftlichen Produktion. Der Halbkanton Basel ist nichts als Stadt. Das mittelgrosse Riehen (20 800 Einwohner) und das Dörfchen Bettingen (1200 Bewohner) an der Anhöhe von St. Chrischona, die 429 Hektaren Wald, die 463 Hektaren Agrarland, die 14 Bauernhöfe, die 175 Kühe, 622 Schweine,53 Schafe, 19 Ziegen und 346 Hühner, die offiziell auch zum Kleinstkanton gehören, sind keine Faktoren, sondern Pittoresken, die aus Gründen der Vollständigkeit oder des Amüsements auf den hinteren Seiten der Statistik mit geführt werden.
Basel, wie die Basler im Chor meinen, ist die «innovative, pulsierende, vielschichtige, progressive, noble, witzige, offene, angenehme, originelle Kultur-, Bildungs- und Wirtschaftsmetropole», nicht allein das starke Zentrum der Nordwestschweizer Ecke, nein, darüber hinaus ein Stand mit internationaler Strahlkraft, das sperrangelweit offene Tor ins Ausland. Auf den Rheinbrücken, sagen schwärmend sensible Gemüter, atme man schon die Weite des Meeres. Der Kanton versteht sich als idealtypische Darstellung der modernen helvetischen Urbanität, die durch kein unfein-agrarisches Umland gebrochen wird: einfach toll, total trendig, liberal, grün und immer sehr sozial.
Im grossen schweizerischen Städtevergleich des Wirtschaftsmagazins Bilanz, das fünfzig Faktoren von «Arbeitsmarkt» bis «Zufriedenheit» analysierte, rangierte Basel vor einem Jahr allerdings erst auf Rang 47, knapp vor Jona SG.
Es gebe, sagen nüchtern rechnende Wirtschaftsführer, keine einzige Statistik, in der Basel-Stadt nicht einen Negativrekord halte oder zumindest die Spitzengruppe ziere: Der Kanton habe die höchste Arbeitslosenquote der Deutschschweiz, unterhalte am meisten IV-Rentner, füttere die grösste Zahl von Sozialhilfebezügern durch, ziehe die meisten Ausländer an (derzeit sind es, trotz grosszügiger Einbürgerungspraxis, bereits 31,6 Prozent), zähle die meisten Dienstuntauglichen, treibe schrecklich hohe Steuern und Abgaben ein, weise die höchste Beamtendichte des Landes aus (fast jeder zehnte Basler ist Funktionär!) und die mit Abstand kolossalsten Personalkosten (gut 10 000 Franken pro Kopf der Bevölkerung). Nirgends in der Schweiz wuchert der Staat wie hier.
Kein Wunder, folgern die Betrachter dieser Zahlenreihen, verliere der Kanton (trotz der wachsenden Nebenstellen Riehen und Bettingen) seine Bewohner: In den letzten fünfzehn Jahren ist die Bevölkerung von rund 200 000 Personen auf gut 187 000 geschrumpft; die Prognostiker rechnen mit einer weiteren Entleerung um rund fünf Prozent, vor allem im Stadtgebiet. Jeder siebte Schweizer, vor allem aus dem Mittelstand mit Kindern, hat seit 1990 den Kanton verlassen; das Vakuum füllten und füllen, in dieser Reihenfolge, Deutsche, Italiener, Türken, Serben. Mittlerweile beherrschen Fremdsprachige erste Kleinbasler Quartiere und Schulen, so das landesweit bekanntgewordene Bläsischulhaus mit seinen Schweizer-freien Klassen.
«Bei der Suche von Kaderpersonal wirkt Basel abschreckend», klagt Rolf Schäuble, Aargauer und erster Nichtbasler an der Spitze des Versicherungskonzerns Bâloise: Umsiedeln wolle niemand. Schäuble zielt auf die Steuerlast und die sozialen Entwicklungen. Mit Ausnahme des künftigen Konzernchefs wohnen alle Spitzenkräfte der Bâloise-Gruppe ausserhalb des Kantons. Ähnlich sind die Verhältnisse in den oberen Etagen der Pharmariesen Novartis und Roche. Novartis-Präsident Daniel Vasella, zwar Ehrendoktor der Universität, soll, um mit den Basler Realitäten nicht in Berührung zu geraten, gar per Helikopter von Risch im steuergünstigen Kanton Zug zur Arbeit einfliegen. In der Stadt sieht man die Wirtschaftsführer so gut wie nie.
Tradition, Stil und Reichtum
Für Regierungsrat Ralph Lewin (SP), der nach zwölf Jahren als Vorsteher des Wirtschafts- und Sozialdepartements zurücktritt, sind diese Klagen Produkt einer falschen Optik. «Man vergleicht immer Kantone mit Kantonen und vergisst dabei, dass Basel, auf wenigen Quadratkilometern eingeklemmt zwischen Deutschland, Frankreich und Basel-Landschaft, kein Hinterland hat, keine Möglichkeit zum Ausgleich und zur Ausdehnung. Basel ist der Kern einer Kernstadt.» Würden die Zahlen der städtischen Gebiete einander gegenübergestellt, dann läge der Kanton im schweizerischen Schnitt, «denn Basel ist kein Sozialparadies; unsere Leistungen liegen zum Teil tiefer als in Zürich». Dass über sieben Prozent der Basler IV-Fälle sind, kann Lewin aber auch mit diesem Hinweis nicht wegwischen: «Wir haben das Phänomen analysiert; ein Drittel der Fälle ist nicht erklärbar. Vielleicht liegt es an der Einstellung der Ärzte.» Im Übrigen seien die Steuern, wirksam per 2009, erst gesenkt worden.
Der Streit um Zahlen und ihre Bedeutung illustriert eine Basler Spezialität mit langer Geschichte: Selbstdefinition und Aussenwahrnehmung klaffen nirgends so weit auseinander wie hier am Rheinknie. Die stolze Stadt mit Tradition, Stil und Reichtum hat es sich stets verbeten, von andern beurteilt und gar gerügt zu werden. Dass sie in ihrer Besonderheit und Herkunft vor allem sich selbst gefällt und genügt, war bereits den alten Eidgenossen südlich des Juras oft säuerlich aufgestossen. 1501 hat Basel sich dem Bund zwar angeschlossen, aber, bedingt durch seine Lage und das hochgeschraubte Selbstverständnis als Universitäts- und Handelsstadt, stets eine eigene Politik betrieben. Trennlinie bis heute ist das spitz und oft snobistisch artikulierte «Baaseldytsch», das als niederalemannischer Dialekt der badischen Mundart ähnlicher ist als dem hochalemannischen Schweizerdeutsch. Kaum ein Basler Politiker hat sich im schweizerischen Raum profiliert: Der erste, Johann Rudolf Wettstein, der 1648 die formelle Unabhängigkeit des Landes erreicht hatte, war ein zugewanderter Zürcher; der vorerst letzte, Helmut Hubacher, langjähriger SP-Präsident, ist ein Berner.
Die urbane Hybris hat Basel die Wunde zugefügt, die bis heute nicht verheilt ist: die Abtrennung der Landschaft im Jahre 1833 nach einem blutigen und schliesslich brutalen Bürgerkrieg mit über 60 Toten. Die Baselbieter hatten mit ihrer Erhebung gegen die Stadt,die sie bevormundete und wirtschaftlich aussaugte, gar nicht die Autonomie, sondern nur die gleichen Bürgerrechte verlangt. Während in andern Kantonen ähnliche Konflikte geregelt werden konnten, reagierten die beleidigten Basler mit dem «törichtsten Beschluss ihrer Geschichte», wie Historiker werten: mit einem Ultimatum, das die Landschäftler in die Unabhängigkeit trieb. Wie sehr die städtischen Verlierer noch heute leiden, zeigte sich am 3. August, als die Baselbieter in einer 175-Jahr-Feier der Entscheidungsschlacht an der Hülftenschanz bei Pratteln gedachten: Die Stadt stellte bewusst keine Delegation.
Dafür will sie unter immer neuen Titeln immer mehr Geld von der Landschaft. Der öffentliche Verkehr, Universität, Kinderspital oder Geriatrie sind partnerschaftlich finanziert. Mittlerweile liefert das Baselbiet 223 Millionen Franken in die Stadt; das sind 30 Prozent der Steuern der natürlichen Personen. Die ultimativ formulierten Forderungen, das Land müsse den Neubau eines «Messezentrums 2012» (50 Millionen), den elitären Theaterbetrieb (weitere 19 Millionen) und auch das Ballett (15 Millionen) mittragen, reissen die Gräben neu auf. Ein Stadtkanton mit einem Volkseinkommen von rund 22 Milliarden Franken pro Jahr, sagen die Baselbieter und schiessen, giftiger und selbstbewusster geworden, zurück, müsste seine Bedürfnisse eigentlich selbst finanzieren können.
Diskretes Geld
Ungleicher als in Basel ist das Geld nirgends verteilt in der Schweiz. 0,5 Prozent der Basler (das sind 850 Menschen) besitzen die Hälfte aller Vermögen, die im ganzen Kanton angehäuft wurden, hat der Soziologe Ueli Mäder in seiner Untersuchung «Reichtum in der Schweiz» eruiert. Das alte Basler Geld, im Besitz des inneren Kerns des Daigs, steckt in Beteiligungen an den Pharmagiganten Novartis und Roche, im Basler Teil der UBS (Bankverein), in der Ciba, Clariant, Bâloise, Syngenta oder in der Manor AG etc. Die diskrete Geld-Aristokratie tritt im Business kaum in Erscheinung. Das Patriziat lässt seine Millionen und Milliarden von auswärtigen Spitzenmanagern verwalten und vermehren. Die Renditen reichen für vielfältiges privates Mäzenatentum, kulturelles wie sportliches Spektakel (über dreissig Museen und der FC Basel); sie garantieren überdies, dass die Stadt vornehm auf leicht zu grossem Fuss leben, die Habenichtse mit Beihilfen ruhigstellen und den politischen Frieden geniessen kann. Tauchen ab und zu doch Probleme und Engpässe auf, sind daran die renitenten «Rampasse» aus dem Baselbiet schuld.
Rund ein Drittel der Staatseinnahmen stammt direkt von den Unternehmen. Ihre Wünsche sind Sachzwänge, die kaum diskutiert werden; ihre Projekte die (einzige) städtebauliche Dynamik. 3,5 Milliarden Franken investiert Novartis in seinen streng abgeriegelten Campus des Wissens am linken Rheinufer. Die Hafenanlage St. Johann musste weichen; nicht nur Quartiergassen werden stillgelegt, sogar die Durchgangsachse Hüningerstrasse wird für das Konzept «The City within the City» geschlossen. Internationale Stararchitekten stellen den 10 000 Gehirnen, die hier forschen, entwickeln und produzieren werden, das stilvollste Ambiente bereit.
Die territoriale Abgrenzung, die andernorts epische Kontroversen provoziert hätte, wurde mit Zunicken und Beifall von rechts bis links abgesegnet. Auch Helmut Hubacher freut sich. «Ein enormer Qualitätszuwachs, eine einmalige, grossartige, unglaubliche Entwicklung», sagt er. Und Konkurrent Roche fühlte sich gefordert, das grossflächige Novartis-Monument mit einem monströsen, 163 Meter hohen und 550 Millionen Franken teuren Turm zu kontern («Bau 1» der Basler Vorzeige-Architekten Herzog & de Meuron). Das kubisch gedrehte Wahrzeichen wird das Stadtbild neu zeichnen. Basel-Stadt ist dann definitiv der Kanton Novartis-Roche.
Die Politik spielt in diesem System keine Rolle, zumindest keine relevante. In der Vorwahlzeit werden zwar beflissen einige Plakate mit unbekannten, aber «kompetenten» Köpfen aufgestellt. Ein umstrittenes politisches Thema ist indes nirgends auszumachen: keine Parolen, kein Kampf, nur freudloses Markieren von Präsenz. «Basel ist faktisch ein Ein-Parteien-Staat», analysiert ein langjähriger Politbeobachter: «SP-Leute, Liberale oder FDP-Vertreter sind mittlerweile beliebig austauschbar.» Für solch parteiübergreifende Harmonie braucht es auch nur ein Medium, die Basler Zeitung (BaZ).
Die «pragmatisch» agierenden Linken seien hier die «besseren Bürgerlichen», stellt die BaZ denn auch fest. Die Grünen und Linken ihrerseits rühmen die nominell bürgerlichen Parteien für ihre «Offenheit». Die grosse Liebe der früheren Rechten zu den Linken ist so tief und intensiv, dass Peter Malama, FDP-Nationalrat und Direktor des Gewerbeverbandes, den roten Kandidaten ins Amt eines Regierungsrats lobt und so die rot-grüne Mehrheit zementiert.
Gilde der Einträchtigen
Hauptsache, die oppositionelle SVP, als «unbaslerische» und somit «unschickliche» Partei gemieden wie die Pest, bleibt draussen. Zwar ist die junge Volkspartei mit einem Wähleranteil von knapp 18 Prozent hinter der noch immer dominierenden Sozialdemokratie die zweitstärkste politische Kraft, artikuliert den Unmut, den es auch gibt, lanciert nicht erfolglose Referenden, schwierige Steuersenkungs-Initiativen und drängt in die Regierung. Doch die Störenfriede bewirkten bis jetzt nur den noch engeren Schulterschluss der linken und traditionell bürgerlichen Parteien.
Politische Widersprüche werden gar nicht thematisiert. Obwohl das industrialisierte und geschäftige Basel eine Rekordmenge von Energie konsumiert, produziert es selbst keine einzige Kilowattstunde und schreibt der übrigen Schweiz erst noch vor, wie sie den Strom, den Basel benötigt, zu generieren habe. In der Verfassung steht - ein Unikum - der Passus, dass der Kanton sich gegen jeden Bau eines Kernkraftwerks offiziell zur Wehr setzen müsse.
«Basel ist ein schwieriger Ort, um Politik zu machen; es ist völlig in sich gekehrt, hat nur den FCB und die Fasnacht», spottet der SVP-Nationalrat und Medizinprofessor Jean Henri Dunant. Obwohl der aristokratisch wirkende Mann in Basel aufgewachsen ist, ist er offenbar stolz Nichtbasler zu sein und nicht zur Gilde der Einträchtigen zu zählen. Dunants Lebenslauf beginnt denn auch mit dem Eintrag, der alle Bebbis schmerzen muss: «Bürger von Genf».
Immerhin: Basel figuriert in der aktuellen Planung des Bundes, neben Zürich und dem Genferseebecken, als «Metropolitanraum» und geniesst so Priorität bei der Verteilung von Bundessubventionen für Infrastrukturbauten. Den Verbleib in der ersten Liga hat es allerdings nicht der eigenen Stärke und den wirtschaftlichen Aussichten zu verdanken. In den Konzeptentwürfen war Basel bereits als Ableger Zürichs definiert. Nur eine diskret nachgeschobene Lobby-Eingabe der Architekten Herzog & de Meuron hat Basel (vorerst) gerettet.
Der skeptische Blick von aussen beunruhigt jedoch weiterhin keinen Basler. «Es gibt», beschliesst Ralph Lewin die Selbstdarstellung, «sehr viele Orte auf der Welt, die mit uns würden tauschen wollen.»
Donnerstag, 4. September 2008
Basel tickt anders (Teil 2)
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