Samstag, 28. August 2010

Die Geschichte der schweizerischen Volksschule

Das Schweizer Volksschulwesen ist in seiner Art einzigartig. Es ist vielgestaltig, den jeweiligen Anforderungen der Menschen, der Landschaft und der örtlichen Geschichte angepasst. Die direkte Demokratie hat die Gestaltung des Schulwesens geprägt. Keine weit entfernte Obrigkeit konnte am Schreibtisch entscheiden, wie die zukünftige Generation zu lernen hat. Doch seit etwa 20 Jahren wird auf Schleichwegen ein destruktiver Einfluss auf die Schulen ausgeübt. Nicht zuletzt auch demokratische Einrichtungen werden schrittweise umgangen. In dem nachfolgenden Artikel soll die Entwicklung des Schulwesens nachgezeichnet, seine Stärken herausgestrichen und Probleme benannt werden.

rl. Vorab eine Bemerkung zur Schule in einem demokratischen Gemeinwesen: Weil in einer Demokratie der Bürger zugleich Souverän ist, muss er umfangreich gebildet werden. Zu dem pädagogischen Ziel einer allgemeinen und umfänglichen Bildung von «Kopf, Herz und Hand» (Pestalozzi) gilt es auch die zukünftige Rolle des Schülers als Bürger einer Gemeinde, eines Kantons und des Bundes zu berücksichtigen. Nicht eine einseitige Ausrichtung der Bildung auf die Wünsche der globalisierten Wirtschaft oder auf einen angenommenen gesellschaftlichen Wandel sind ausschlaggebend, sondern eine solide Allgemeinbildung, die jeden instand setzt, über alle Fragen des Gemeinwesens im Sinne des Bonum commune zu entscheiden.

Diese Bildung von «Kopf, Herz und Hand» zielt darauf ab, dass jeder in der Lage ist, sich vertieft mit den gegebenen politischen Sachverhalten auseinanderzusetzen, um besser entscheiden zu können. Unabhängig von seiner Bildung ist jeder angehalten, über die anliegenden Sachverhalte mitzuentscheiden! Im übrigen entwickelt jeder, der aufgefordert ist, mitzuentscheiden, den Wunsch, die anstehenden Entscheidungen zu verstehen. Direkte Demokratie erzieht zur Mündigkeit!
Anhand verschiedener historischer Festschriften lässt sich die Entwicklung des Schweizer Volksschulwesens in der direkten Demokratie nachzeichnen. Der Leser ist beeindruckt von dem Engagement, der Sorgfalt und Weitsicht, mit der um eine gute und gerechte Schule gerungen wurde. In dem Jubiläumsband «Die Zürcherischen Volksschulen 1832–1932» von 1933 wurde jeder einzelne Entwicklungsschritt hin zu einem funktionierenden Schulwesen, das sowohl den pädagogischen Aufgaben gewachsen ist, als auch den Ansprüchen der direkten Demokratie gerecht wird, detailliert beschrieben. So heisst es beispielsweise: «Wie später immer wieder erkannte man auch um 1830, dass eine Demokratie von Ungebildeten und Unerzogenen eine von vornherein verlorene Sache sei. Als einen ihrer ‹wichtigsten Wünsche› hatten die Männer von Uster eine ‹durchgreifende Verbesserung des Schulwesens› verlangt.» (S. 8) Aus der Perspektive der Sekundarschullehrer wird in der Festschrift «125 Jahre Thurgauerische Sekundarlehrer-Konferenz. 1857 bis 1982» (1984) das Bemühen um einen guten Unterricht beschrieben, so zum Beispiel:
«Die Konferenz beschloss 1860, ‹Mitteilungen von Erfahrungen über den Lehrplan zu einem ständigen Traktandum ihrer Versammlungen zu machen. Das wurde während sechs Jahren so gehandhabt, dass nach einem Referat über ein bestimmtes Lehrfach die Diskussion einsetzte und auch Probelektionen gehalten und besprochen wurden.›» (S. 13)

Das Lehrerseminar Küsnacht ZH gab 1982 schliesslich eine Jubiläumsschrift heraus, die im Einband das Motto ihrer Seminarfahne aus dem ausgehenden 19. Jahrhundert abbildet: «Volksbildung ist Volksbefreiung».
Im Gegensatz zu den umliegenden europäischen Staaten hat das Schulwesen in der Schweiz eine sehr enge Bindung an die Gemeinde und den Kanton erfahren, die sich eben in solchen Jubiläumsbänden ausdrückt. Ein Zeichen der Verwurzelung in der direkten Demokratie.

Wie auch in anderen europäischen Staaten wurde in der Folge des Humanismus und der Aufklärung der Wert der Bildung erkannt. Neu hinzu trat durch die Aufklärung der Gedanke, dass jeder Anspruch auf Bildung hat. So entstanden in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der Schweiz, in Österreich und in Deutschland Volksschulbewegungen, die von vielen engagierten Pädagogen getragen wurde: Johann Heinrich Pestalozzi, Philipp Albert Stapfer, Friedrich Fröbel, Thomas Scherr, Adolph Diesterweg, Karl-Friedrich-Wilhelm Wander u.v.a.m. Ihnen war es ein grosses Anliegen, eine breite Volksbildung für alle durchzusetzen. Ihr Engagement war eng mit der demokratischen Bewegung verbunden. Viele standen im Widerspruch zur herrschenden Regierung in ihrem Land und erlitten wechselhafte Schicksale. Die Fürsten Europas waren zwar an einer guten Ausbildung ihrer Untertanen interessiert – nicht zuletzt um die öffentliche Wohlfahrt und damit die Steuereinnahmen zu steigern –, aber nicht, um aufgeklärte Bürger im Lande zu haben. Während in Deutschland nach 1848 die demokratische Volksschulbewegung unterdrückt wurde, fand in der Schweiz ein vielfältiger Aufbau statt.
In den Gemeinden wurden Gremien gebildet, die die Schulen beaufsichtigen sollten. So entstanden demokratisch gewählte Schulbehörden, die sich aus Bürgern der Gemeinde zusammensetzten. Jede Gemeinde beaufsichtigt über diese Behörde den Unterricht, die Lehrerschaft und die Schulgebäude. So waren auch die Anliegen der Gemeinde in der Schule aufgehoben. Bis vor kurzem konnten die Eltern als Bürger einer Gemeinde über die Festanstellung eines Lehrers mitbestimmen. Die staatliche und fachliche Aufsicht wurde von gewählten Personen durchgeführt, je nach Kanton zum Teil mit erfahrenen Lehrpersonen (je nach Kanton z.B. «Inspektor» oder «Bezirksschulpfleger»). Insgesamt war die Organisation demokratisch gestaltet, schlank und volksnah. Probleme wurden subsidiär direkt vor Ort ausgehandelt.
Die Kantone richteten die Lehrerbildung ein und sorgten für ein geregeltes Schulwesen. Dabei wurden ebenfalls Gremien (wie z.B. ein «Erziehungsrat») gewählt, die sich aus allen Schichten der Bevölkerung und Fachpersonen zusammensetzten. Kein Minister drückt via Erlass die Politik seiner Lobbygruppe durch.
Die Lehrerschaft organisierte sich in «Konventen» oder traf sich zu grösseren «Kapiteln» bzw. «Synoden», um ihrerseits Vorschläge zur Verbesserung des Schulwesens zu machen oder diese auszuarbeiten. Die vielen liebevoll zusammengestellten Lehrmittel sind eines der beeindruckenden Zeugnisse dieses Engagements.

In vielen Kantonen organisierte die Lehrerschaft den Schulbetrieb selbst. Die Lehrer wählten sich aus den eigenen Reihen für eine befristete Zeit einen «Hausvorstand» oder «Schulleiter», der die Koordination der Lehrerschaft übernahm. Stundenpläne, Materialverwaltung, den grössten Teil des administrativen Aufwands, aber auch Anlässe über die Schule hinaus, wurden selbst organisiert. Ein selbstbestimmtes und dabei noch kostengünstiges Modell.
In den Kantonen entstanden unterschiedliche Schulstrukturen, entsprechend den Bedürfnissen und Bedingungen. So sieht heute die Schule im Tessin anders aus als die Schule in der Waadt oder in Schaffhausen. Den föderalen Rahmen bilden Absprachen unter den Kantonen und einige wenige bundesstaatliche Vorgaben (z.B. Schulobligatorium, Unentgeltlichkeit des Schulbesuchs oder Lektionenzahl des Turnunterrichts).

Schon am Anfang gab es Versuche, über den Bund vermehrt Einfluss auf die Erziehungseinrichtungen der Kantone zu erlangen. Mit der Idee, einen Schulsekretär für das Erziehungswesen («Schulvogt») zu installieren, scheiterte der Bundesrat jedoch 1882 deutlich. Das Thema war damit erst einmal für lange Zeit vom Tisch.
Heute wird wieder auf verschiedenen Ebenen versucht, am Volk vorbei das Bildungswesen zu zentralisieren. Daran erinnern zum Beispiel die Aktivitäten des nicht direkt gewählten Direktorengremiums (Erziehungsdirektorenkonferenz EDK) auf interkantonaler Ebene (Harmos, Lehrplan 21 usw.). Auch die flächendeckende Einführung von Schulleitungen, die eng von der jeweiligen kantonalen Erziehungsbehörde «geführt» werden, stellt einen Bruch in der Geschichte der Volksschule dar. All diese Umgestaltungen sind keine Schweizer Errungenschaften, sondern kommen über Umwege aus dem Hause Bertelsmann1 oder via OECD2 ins Land. Sie sind machtorientiert und ökonomistisch ausgerichtet.

Heute fordert der sich verstärkende Unmut unter Eltern, Lehrerschaft, aber auch von Erziehungswissenschaftern einen Marschhalt bei den «Reformen» ein, nicht zuletzt auch weil die meisten «Reformen» auf Kosten der demokratischen Einbindung und der Schulqualität stattfinden. Es tut not, sich auf die Grundlagen unserer Schule zu besinnen, die unsinnigen Schulreformen zu stoppen und vermehrt wieder am Positiven anzuknüpfen.

1 Das erstaunliche Gerede von «selbständigen», «teil­autonomen» oder «autonomen» Schulen hat keinen pädagogischen Hintergrund, sondern einen macht- und wirtschaftspolitischen. Die Schule als dirigierbare und profitable Einheit. Eine nicht unerhebliche Rolle bei der Einführung dieses Konzepts spielte die Bertelsmann-Stiftung mit der 1995 breit und kostenlos verteilten Schrift: «Zukunft der Bildung. Schule der Zukunft», in der sie die Schule als «Haus des Lernens» propagierte. (Vergleichen Sie, bitte, wie sich die europäische Bildungslandschaft in den vergangenen 15 Jahren diesem privatwirtschaftlichen Konzept angenähert hat). Nicht zuletzt die neoliberale Ideologie Milton Friedmans stand hier Pate (in der Realwirtschaft ist diese Theorie mit der Bankenkrise grandios gescheitert).
Nachdem Ernst Buschor als Zürcher Bildungs­direktor «Schulreformen» im grossen Stil
eingeführt hatte, figurierte er nach seinem Abgang als Verwaltungsratsmitglied der
Bertelsmann-Stiftung.
2 Als demokratisch nicht legitimiertes Gremium hat die OECD, der auch die Schweiz angehört, inzwischen Aufgaben übernommen, die weit über wirtschaftliche Fragen hinausgehen. Europaweit stellt sie indirekt Vorgaben für die Schulpolitik in den einzelnen Ländern. Wer der OECD, mit welchem Recht, Aufgaben erteilt, bleibt unklar. So werden Länderberichte erstellt, bestimmte Phänomene untersucht oder pädagogisch umstrittene Tests wie PISA entwickelt. Die Ergebnisse werden dann als Ziele für die jeweilige Schulbildung vorgegeben. So fliessen die von OECD-Kommissionen erarbeiteten Inhalte in die kantonalen oder interkantonalen Lehrpläne ein. Viele kantonale Erziehungsbehörden fühlten sich zunehmend von der Flut «internationaler» Anforderungen überfordert und holten sich «Experten» in ihre Departements. Dabei passierte es häufiger, dass ein Vertreter Bertelsmanns oder der OECD in der Bildungsverwaltung landete.

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