Dienstag, 8. Februar 2011

Das globale politische Erwachen

Erleben wir den Beginn einer weltweiten Revolution? Nordafrika und das globale politische Erwachen, Teil 1

Andrew Gavin Marshall

Es scheint, als erlebe die Welt den Beginn einer neuen revolutionären Ära: das Zeitalter des »Globalen Politischen Erwachens«. Dieses »Erwachen« manifestiert sich zwar in verschiedenen Regionen und Ländern und unter unterschiedlichen Umständen, wird jedoch in hohem Maße durch die globalen Bedingungen bestimmt. Die weltweite Dominanz durch die westlichen Führungsmächte, allen voran die Vereinigten Staaten, in den vergangenen 65 Jahren, eigentlich schon seit Jahrhunderten, ist an einen Wendepunkt gekommen.

»Zum ersten Mal in der Geschichte ist fast die gesamte Menschheit politisch aktiviert, legt politisches Bewusstsein an den Tag und beeinflusst sich gegenseitig politisch … Der daraus resultierende weltweite politische Aktivismus führt dazu, dass der Drang nach persönlicher Würde, kulturellem Respekt und wirtschaftlichen Chancen steigt in einer Welt, die von der schmerzlichen Erinnerung an jahrhundertelange fremde Kolonialherrschaft oder imperialistische Dominanz gezeichnet ist … Das weltweite Verlangen nach Menschenwürde ist die zentrale Herausforderung bei dem Phänomen des globalen politischen Erwachens … Dieses Erwachen erfasst die Gesellschaft ganz massiv und radikalisiert sie politisch … Der fast überall verfügbare Zugang zu Radio, Fernsehen und zunehmend zum Internet erzeugt eine Gemeinschaft gemeinsamer Wahrnehmung und von Neid, die von demagogischer politischer oder religiöser Leidenschaft elektrisiert und kanalisiert werden kann. Diese Energien reichen über Landesgrenzen hinweg und stellen sowohl für die bestehenden Staaten als auch für die bestehende globale Hierarchie, in der Amerika noch immer eine Spitzenposition einnimmt, eine Herausforderung dar …

Die Jugend in der Dritten Welt zeigt sich besonders unruhig und gereizt. Die demografische Umwälzung, die sie verkörpert, wird somit auch zu einer politischen Zeitbombe … Ihre potenziell revolutionäre Führung wird sich mit hoher Wahrscheinlichkeit aus den Reihen der Millionen von Studenten rekrutieren, die sich in den intellektuell häufig fragwürdigen ›Hochschul‹-Bildungseinrichtungen der Entwicklungsländer sammeln. Je nachdem, was man als Hochschul-Bildungsebene definiert, gibt es heute weltweit zwischen 80 und 130 Millionen ›College‹-Studenten. Diese Millionen Studenten, die typischerweise aus der sozial unsicheren unteren Mittelschicht kommen und von Wut über die gesellschaftlichen Zustände entbrennen, sind Revolutionäre im Wartestand, sie sind bereits in großen Gruppen teilweise mobilisiert, stehen über das Internet miteinander in Verbindung und sind bereit, das, was vor Jahren in Mexiko City oder auf dem Tiananmen-Platz geschehen ist, zu wiederholen. Ihre physische Energie und emotionale Frustration warten praktisch nur darauf, von einem Anlass, Glauben oder Hass gezündet zu werden …

Die neuen und alten großen Weltmächte sind mit einer neuartigen Realität konfrontiert: einerseits ist ihre Militärmacht größer und tödlicher denn je zuvor, andererseits waren sie nie zuvor so schwach, wenn es darum geht, die politisch erwachten Massen auf der Welt unter Kontrolle zu halten. Um es ganz klar zu sagen: Früher war es einfacher, eine Million Menschen unter Kontrolle zu halten, als eine Million Menschen umzubringen; heute ist es unendlich viel einfacher, eine Million Menschen umzubringen, als eine Million Menschen zu kontrollieren.« (1)

Zbigniew Brzezinski (ehemaliger Nationaler Sicherheitsberater der USA,

Mitbegründer der Trilateralen Kommission, Mitglied des Kuratoriums, Center for Strategic and International Studies)

In Tunesien hat ein Aufstand zum Sturz der seit 23 Jahren bestehenden Diktatur von Präsident Ben Ali geführt. Trotz Bildung einer neuen »Übergangs«-Regierung haben die Proteste nicht aufgehört, bei denen eine völlig neue Regierung gefordert wird, die frei ist von den Relikten der früheren Tyrannei. Seit Wochen gibt es Demonstrationen in Algerien, dort steigt die Wut über steigende Lebensmittelpreise, Korruption und staatliche Unterdrückung. Angesichts von Protesten in Jordanien sah sich der König gezwungen, das Militär einzusetzen, im Umkreis der Städte Panzer aufziehen zu lassen und Kontrollpunkte zu errichten. Zehntausende Demonstranten marschierten in Kairo und verlangten ein Ende der 30-jährigen Diktatur von Hosni Mubarak. Tausende Aktivisten, Oppositionsführer und Studenten demonstrierten in der Hauptstadt des Jemen gegen die korrupte Diktatur von Präsident Saleh, der seit 1978 an der Macht ist. Saleh versucht mit amerikanischer Militärhilfe, eine Rebellenbewegung im Norden zu zerschlagen und ebenso eine massive Abtrünnigen-Bewegung namens »Bewegung des Südens«, die im Süden des Landes immer mehr Anhänger gewinnt. Proteste in Bolivien gegen steigende Nahrungsmittelpreise zwangen die populistische Regierung von Evo Morales, eine geplante Kürzung von Subventionen zurückzunehmen. In Chile brachen Unruhen aus, als Demonstranten gegen steigende Benzinpreise auf die Straße gingen. In Albanien kamen mehrere Demonstranten bei Protesten gegen die Regierung ums Leben.

Es scheint, als erlebe die Welt den Beginn einer neuen revolutionären Ära: Das Zeitalter des »Globalen Politischen Erwachens«. Dieses »Erwachen« manifestiert sich zwar in verschiedenen Regionen und Ländern und unter unterschiedlichen Umständen, wird jedoch in hohem Maße durch die globalen Bedingungen bestimmt. Die weltweite Dominanz durch die westlichen Führungsmächte, allen voran die Vereinigten Staaten, in den vergangenen 65 Jahren, eigentlich schon seit Jahrhunderten, ist an einen Wendepunkt gekommen. Die Menschen auf der Welt sind unruhig, aufgebracht und voller Wut. Veränderung liegt, so scheint es, in der Luft. Wie die Zitate von Brzezinski zeigen, bedeutet diese Entwicklung auf der Weltbühne die radikalste und potenziell gefährlichste Bedrohung für globale Macht- und Weltreichs-Strukturen. Sie ist nicht nur eine Bedrohung für die Länder, in denen sich die Proteste erheben und nach Veränderung gerufen wird, sondern sie bedroht, vielleicht sogar in weit höherem Maße, die imperialen Mächte des Westens, internationale Institutionen, multinationale Konzerne und Banken, die weltweit diese unterdrückerischen Regimes einerseits finanziell stützen, bewaffnen und protegieren, und andererseits von ihnen profitieren. Amerika und der Westen stehen somit vor einer kolossalen strategischen Herausforderung: Was ist zu tun, um diesem globalen politischen Erwachen Einhalt zu gebieten? Zbigniew Brzezinski zählt zu den wichtigsten Architekten der amerikanischen Außenpolitik und ist vermutlich einer der geistigen Pioniere des Systems der Globalisierung. Deshalb beziehen sich seine Warnungen vor dem »Globalen Politischen Erwachen« direkt darauf, dass es von seiner Natur her eine Bedrohung für die herrschende weltweite Hierarchie darstellt. In diesem Sinne müssen wir das »Erwachen« als die größte Hoffnung für die Menschheit betrachten. Gewiss, manches wird scheitern, es wird Probleme und Rückschläge geben. Doch das »Erwachen« hat begonnen, es ist im Gang, und kann nicht so einfach vereinnahmt oder unter Kontrolle gebracht werden, wie viele vielleicht denken.

Reflexartig neigen die imperialen Mächte dazu, die unterdrückerischen Regimes weiter zu bewaffnen und zu unterstützen oder möglicherweise eine Destabilisierung durch verdeckte Operationen oder offene Kriegsführung (wie im Jemen) zu organisieren. Als Alternative kommt für sie eine Strategie der »Demokratisierung« infrage, bei der westliche NGOs, Hilfswerke und Organisationen der Zivilgesellschaft enge Kontakte und Beziehungen zur Zivilgesellschaft in diesen Regionen und Ländern entwickeln. Das Ziel dieser Strategie besteht darin, die jeweilige Zivilgesellschaft zu organisieren, zu finanzieren und in die Lage zu versetzen, ein demokratisches System nach westlichem Vorbild aufzubauen und dadurch die Kontinuität in der internationalen Hierarchie zu wahren. Im Wesentlichen beinhaltet das System der »Demokratisierung« die Schaffung der äußeren Merkmale eines demokratischen Staats (Wahlen unter Beteiligung von mehreren Parteien, aktive Zivilgesellschaft, »unabhängige« Medien usw.), wobei jedoch die Abhängigkeit von Weltbank, IWF, multinationalen Konzernen und westlichen Mächte aufrecht erhalten wird.

Wie es aussieht, werden in der arabischen Welt beide Strategien gleichzeitig eingesetzt: die Durchsetzung und Unterstützung staatlicher Repression und der Aufbau von Verbindungen zu zivilgesellschaftlichen Organisationen. Der Westen steht dabei jedoch vor dem Problem, dass bisher in weiten Teilen der Region noch keine starken Bindungen an zivilgesellschaftliche Organisationen und eine entsprechende Abhängigkeit aufgebaut werden konnte, da sich die von ihm unterstützten unterdrückerischen Regimes – kaum überraschend – gegen solche Maßnahmen zur Wehr setzen. In diesem Lichte dürfen wir diese Proteste und Aufstände nicht als vom Westen angezettelt abtun, sondern müssen davon ausgehen, dass sie organisch entstanden sind, wobei der Westen anschließend versucht, die entstehenden Bewegungen zu vereinnahmen und zu kontrollieren.

Teil eins dieses Aufsatzes konzentriert sich auf die Entstehung dieser Protestbewegungen und Aufstände und stellt sie in den Zusammenhang des Globalen Politischen Erwachens. In Teil zwei wird dann die westliche Strategie des »demokratischen Imperialismus« untersucht als Methode, das »Erwachen« für sich zu vereinnahmen und »freundliche« Regierungen einzusetzen.

Zündfunke Tunesien
In einer internen Mitteilung der US-Botschaft in Tunis vom Juli 2009 hieß es: »… viele Tunesier sind frustriert über die fehlende politische Freiheit und wütend über Korruption in der Präsidentenfamilie, hohe Arbeitslosigkeit und regionale Ungleichgewichte. Extremismus stellt auch weiterhin eine Bedrohung dar« und »… die Risiken für die langfristige Stabilität des Regimes wachsen.« (2)

Am Freitag, den 14. Januar 2011, endete nach 23 Jahren die Diktatur des tunesischen Präsidenten Ben Ali. Zuvor hatten die Menschen in Tunesien wochenlang gegen steigende Lebensmittelpreise protestiert, geschürt wurden die Unruhen durch wachsenden Zorn über die politische Repression sowie durch die von WikiLeaks veröffentlichten Telegramme, die bestätigten, was man in Tunesien ohnehin vermutete, nämlich umfassende Korruption aufseiten der Herrscherfamilie. Wie es aussieht, sprang der Funke nach der Selbstverbrennung eines 26-jährigen Arbeitslosen am 17. Dezember über.

Auf die Protestwelle, die der Tod des 26-Jährigen auslöste, antwortete die tunesische Regierung mit hartem Durchgreifen gegen die Demonstranten. Die Schätzungen schwanken, doch rund 100 Menschen fanden bei den Zusammenstößen den Tod. Mehr als die Hälfte der zehn Millionen Einwohner Tunesiens sind jünger als 25, kennen also gar kein Leben ohne diesen Diktator. Seit der Unabhängigkeit von der Imperialmacht Frankreich im Jahr 1956 hat es in Tunesien nur zwei Herrscher gegeben: Habib Bourguiba und Ben Ali. (3) Jetzt brachte eine Vielzahl von Auslösern die Menschen auf die Straße: die Unterdrückung durch eine Diktatur, die Medien und Internet einer strengen Zensur unterworfen hatte, steigende Lebensmittelpreise und Inflation, eine korrupte Herrscherfamilie, fehlende Arbeitsplätze für qualifizierte Jugendliche und das allgemeine Gefühl oder die reale Erfahrung von Ausbeutung, Unterwerfung und fehlender Achtung der Menschenwürde.

Nach dem Sturz Ben Alis übernahm Premierminister Mohamed Ghannouchi das Amt des Präsidenten und formierte eine »Übergangsregierung«. Doch das führte nur zu weiteren Protesten, bei denen auch sein Rücktritt und der der gesamten Regierung gefordert wurde. Es ist bezeichnend, dass die Gewerkschaftsbewegung bei der Mobilisierung für diese Proteste eine wichtige Rolle spielte, dabei war in der ersten Phase der Proteste eine Gewerkschaft von Rechtsanwälten besonders aktiv. (4)

Auch wenn soziale Netzwerke und das Internet wesentlich dazu beigetragen haben, die Menschen in Tunesien für den Aufstand zu mobilisieren, so haben doch letztlich direkte Proteste und Aktionen zu Ben Alis Rücktritt geführt. Somit entspricht es nicht der Wahrheit, wenn im Fall Tunesien von einer »Twitter-Revolution« gesprochen wird.

In der Tat haben Twitter, WikiLeaks, Facebook, YouTube, Foren und Blogs eine wichtige Rolle gespielt. Sie sind Ausdruck der Fähigkeit, »kollektiv das arabische Informationsumfeld zu verändern und die Fähigkeit autoritärer Regimes zu erschüttern, den Fluss von Informationen, Bildern, Ideen und Meinungen zu kontrollieren« (5). [Anmerkung des Herausgebers von Global Research: Die in den USA ansässige Stiftung Freedom House war im Nahen Osten und Nordafrika an der Förderung und Ausbildung einiger Facebook- und Twitter-Blogger beteiligt (siehe auch Freedom House), M. C.]

Wir sollten ebenfalls nicht vergessen, dass soziale Netzwerke im Internet inzwischen nicht nur zu einer wichtigen Quelle für Mobilisierung und Information an der Basis geworden sind, sondern auch zu einem Instrument, dessen sich Regierungen und verschiedene Machtstrukturen zur Manipulation des Informationsflusses bedienen. Das zeigte sich 2009 an den Protesten im Iran, wo westliche Länder soziale Netzwerke im Rahmen ihrer Strategie der Unterstützung der sogenannten »Grünen Revolution« zur Destabilisierung der iranischen Regierung benutzten. Soziale Netzwerke sind also eine neue Form der Macht, weder schwarz noch weiß, die in beide Richtungen genutzt werden kann: den Prozess des »Erwachens« zu fördern oder seine Ausrichtung zu kontrollieren.

Während Amerika im Sommer 2009 den Iran öffentlich wegen der Blockade (oder versuchten Blockade) sozialer Netzwerke angeprangert hatte, schwieg man wie auch im gesamten Westen in den ersten Wochen der Proteste in Tunesien (die von den westlichen Medien weitgehend ignoriert wurden) über die dort geübte Zensur. (6) Steven Cook, der für den Council on Foreign Relations, die Denkfabrik der US-Elite, schreibt, kommentierte, dass den Protesten in Tunesien in den ersten Wochen des Widerstands vor dem Rücktritt Ben Alis keine Aufmerksamkeit gewidmet wurde.

Auch wenn viele davon ausgingen, so erklärte er, dass die Regimes der »starken Männer« in der arabischen Welt im Amt bleiben würden, wie es in der Vergangenheit stets der Fall gewesen sei, so könnten sie sich im Irrtum befinden. Es seien »vielleicht nicht die letzten Tage von Ben Ali, Mubarak oder einem anderen starken Mann im Nahen Osten, doch es ist eindeutig, dass in der Region etwas im Gange ist«. Doch es war das Ende von Ben Ali und in der Tat »ist in der Region etwas im Gange« (7)

Frankreichs Präsident Sarkozy musste sogar einräumen, er habe »die Wut der Menschen in Tunesien und die Protestbewegung, die zum Sturz von Präsident Zine a-Abidine Ben Ali führte, unterschätzt«. In den ersten Wochen des Protests in Tunesien hatten mehrere französische Regierungsvertreter öffentlich die Diktatur unterstützt, wobei die französische Außenministerin so weit ging zu sagen, Frankreich werde das Polizei-»Knowhow« zur Verfügung stellen, um Ben Ali dabei zu helfen, die Ordnung aufrechtzuerhalten. (8)

Wenige Tage vor dem Sturz Ben Alis erklärte Hillary Clinton in einem Interview, Amerika sei besorgt »über die Unruhe und Instabilität«. Und weiter: »… ohne eine Position zu beziehen, sagen wir, dass wir auf eine friedliche Lösung hoffen. Ich hoffe, dass die tunesische Regierung eine friedliche Lösung herbeiführen kann.« Clinton lamentierte: »Größte Sorgen bereiten mir die vielen jungen Menschen in der gesamten Region, denen ihre Heimatländer keine wirtschaftlichen Chancen bieten.« (9) Ihre Besorgnis entspringt jedoch nicht etwa humanitären, sondern vielmehr inhärenten imperialistischen Erwägungen: Es ist ganz einfach schwieriger, eine Region unter Kontrolle zu haben, die von Aktivismus, Aufständen und Revolution geprägt ist.

Der Funke entzündet eine Flamme
Mit Tunesien ist die Messlatte für die Menschen in der gesamten arabischen Welt höher gehängt geworden, Gerechtigkeit, Demokratie, Verantwortlichkeit, wirtschaftliche Stabilität und Freiheit zu fordern. In dem Moment, wo die Proteste in Tunesien in vollem Gange waren, erlebte auch Algerien Massenproteste, hauptsächlich wegen der gestiegenen Lebensmittelpreise, doch auch in Reaktion auf dieselben Anliegen, die schon die Demonstranten in Tunesien auf die Straße getrieben hatten: demokratische Verantwortung, Korruption, Freiheit. Ein ehemaliger Diplomat aus Algerien erklärte Anfang Januar gegenüber Al Jazeera: »Es ist eine Revolte, wenn nicht gar eine Revolution unterdrückter Menschen, die seit 50 Jahren auf Wohnungen, Beschäftigung und ein gutes anständiges Leben warten – in einem sehr reichen Land.« (10)

Mitte Januar brachen in Jordanien ähnliche Proteste aus; mit Slogans gegen die Regierung gingen Tausende auf die Straße und protestierten gegen steigende Lebensmittelpreise und Arbeitslosigkeit. König Abdullah II. hatte »in dem Versuch, eine Eskalation der Proteste zu verhindern, im Palast eine Sondereinheit gebildet, zu der Offiziere von Militär und Geheimdienst gehörten«; an den Rändern der großen Städte zogen Panzer auf, Barrieren und Kontrollpunkte wurden errichtet. (11)

Im Jemen, dem ärmsten Land in der arabischen Welt, das in einem von den USA unterstützten Krieg gegen das eigene Volk versinkt und das seit 1978 von einem Diktator beherrscht wird, demonstrierten Tausende gegen die Regierung, sie forderten den Rücktritt des Diktators Ali Abdullah Saleh. In der Hauptstadt Sanaa ertönten Sprechchöre von Tausenden Studenten, Aktivisten und oppositionellen Gruppen: »Hau ab, hau ab, Ali. Folg’ deinem Freund Ben Ali.« (12) Der Jemen ist in den vergangenen Jahren kaum zur Ruhe gekommen; im Norden kämpft eine 2004 gegründete Rebellenbewegung gegen die Regierung; im Süden kämpft seit 2007 eine starke Abtrünnigen-Bewegung namens »Bewegung des Südens« für die Befreiung. Die Financial Times erklärte:

»Viele Beobachter im Jemen betrachten die Wut und die Stimmung für eine Sezession, die sich jetzt im Süden breitmacht, als größere Bedrohung für die Stabilität des Landes, als den weit stärker publizierten Kampf mit al-Qaida; die Spannungen werden durch die sich verschlechternde wirtschaftliche Lage noch weiter erhöht.

Die Arbeitslosigkeit steigt rasant, vor allem unter der Jugend. Selbst das statistische Büro der Regierung in Aden beziffert sie für Männer zwischen 20 und 24 Jahren auf fast 40 Prozent.« (13)

Mobilisiert von der sozialistischen Opposition, gingen in Albanien am 21. Januar Tausende Demonstranten auf die Straße. Die Proteste endeten in gewalttätigen Zusammenstößen zwischen Polizei und Demonstranten, von denen drei getötet wurden. In Albanien war es seit der hart umkämpften Wahl von 2009 bereits sporadisch zu Protesten gekommen, inspiriert durch Tunesien nehmen sie jetzt an Intensivität zu. (14)

Israels Vize-Ministerpräsident Silvan Shalom brachte seine Besorgnis über die revolutionäre Stimmungslage in der arabischen Welt mit den Worten zum Ausdruck: »Ich befürchte, dass wir gegenwärtig vor einer neuen und äußerst kritischen Phase in der arabischen Welt stehen.« Er fürchtet, Tunesien könne »einen Präzedenzfall bilden, der sich in anderen Ländern wiederholt und sich möglicherweise auf die Stabilität unseres Systems auswirkt.« (15) Die israelische Führung fürchtet Demokratie in der arabischen Welt, denn es besteht eine Sicherheitsallianz mit den großen arabischen Ländern, die, wie Israel selbst, amerikanische Stellvertreterstaaten in der Region sind. Israel unterhält zivile – wenn auch nicht störungsfreie – Beziehungen zu den arabischen Monarchen und Diktatoren. Öffentlich üben die arabischen Staaten Kritik an Israel, doch hinter geschlossenen Türen sind sie gezwungen, Israels Militarismus und Kriegshetze stillschweigend zu akzeptieren, wenn sie sich nicht gegen die Supermacht, Amerika, erheben wollen. Die öffentliche Meinung in der arabischen Welt ist hingegen extrem israel- und amerikafeindlich, dem Iran ist man freundlich gesonnen.

Im Juli 2010 wurden die Ergebnisse einer großen internationalen Meinungsumfrage in der arabischen Welt veröffentlicht. Befragt wurden Menschen in Ägypten, Saudi-Arabien, Marokko, Jordanien, im Libanon und den Vereinigten Arabischen Emiraten. Es gab einige bemerkenswerte Erkenntnisse, zum Beispiel: War Obama zu Beginn seiner Präsidentschaft noch begrüßt worden – zeigten sich im Frühjahr 2009 noch 51 Prozent der Befragten optimistisch in Bezug auf die Politik der USA –, so waren es im Sommer 2010 nur noch 16 Prozent. 2009 sagten 29 Prozent der Befragten, ein atomar bewaffneter Iran wäre gut für die Region, 2010 erreichte dieser Wert 57 Prozent. Die Meinungen wichen also deutlich von der Haltung der jeweiligen Regierung ab. (16)

Während die USA, Israel und die Führer der arabischen Länder behaupten, der Iran stelle die größte Bedrohung für Frieden und Stabilität im Nahen Osten dar, teilen die Menschen in den arabischen Ländern diese Meinung nicht. Auf eine offene Frage, welche zwei Länder die größte Bedrohung für die Region darstellten, antworteten 88 Prozent mit »Israel«, 77 Prozent mit »Amerika« und zehn Prozent mit »Iran«. (17)

Beim arabischen Wirtschaftsgipfel kurz nach dem Rücktritt Ben Alis, der zum ersten Mal nicht an dem Treffen teilnahm, war das Klima vom Aufstand in Tunesien bestimmt. Amr Moussa, der Vorsitzende der Arabischen Liga, erklärte in der Eröffnungsrede des Gipfeltreffens: »Die tunesische Revolution ist nicht weit weg«, und »der Bürger in der arabischen Welt hat ein bisher nie erlebtes Maß von Wut und Frustration erreicht.« Er betonte: »Die arabische Seele ist durch Armut, Arbeitslosigkeit und eine allgemeine Rezession gebrochen.« Die Bedeutung dieser »Bedrohung« für die arabische Führung sollte nicht unterschätzt werden. Von rund 352 Millionen Arabern sind 190 Millionen unter 24 Jahre alt, davon sind fast drei Viertel arbeitslos. Oftmals »haben die jungen Menschen nichts von ihrer Ausbildung, weil es in dem Bereich, für den sie ausgebildet sind, keine Arbeit gibt« (18).

Selbst die israelische Zeitung Ha’aretz brachte einen Artikel, in dem die Behauptung aufgestellt wurde, Israel stehe »möglicherweise am Vorabend einer Revolution«. Zur Erklärung führte der Autor aus:

»Zivilgesellschaftliche Organisationen in Israel haben im Laufe der Zeit erhebliche Macht gewonnen; nicht nur die sogenannten linksgerichteten Organisationen, sondern auch die, die sich mit Fragen wie Armut, Rechte der Arbeiter, Gewalt gegen Frauen und Kinder beschäftigen. Sie alle wurden gegründet, um die Lücken zu füllen, die der Staat offengelassen hat, der seinerseits nur allzu gern auch weiter den Problemen aus dem Weg ging, um die sich jemand anders kümmern konnte. Die Versäumnisse nehmen solche Ausmaße an, dass der tertiäre Sektor – NGOs, Wohltätigkeits- und Freiwilligenorganisationen – mittlerweile einer der größten der Welt ist. Als solcher verfügt er über ansehnliche Macht. (18)

Jetzt wollen Knesset und Parlament in Israel diese Macht zurückhaben; doch, so postuliert der Autor, sie »übersehen dabei geflissentlich die Ursachen dafür, dass diese Gruppen so mächtig geworden sind« (19):

»Die Quelle ihrer Macht ist das Vakuum, die kriminelle Politik der israelischen Regierungen der vergangenen 40 Jahre. Die Quelle ihrer Macht ist eine Regierung, die ihre Pflicht vernachlässigt, für die Bürger zu sorgen und die Besatzung zu beenden, und eine Knesset, die die Regierung unterstützt, anstatt sie in die Schranken zu weisen.« (20)

Die israelische Knesset hat eine Untersuchung der Finanzierung israelischer Menschenrechtsorganisationen in die Wege geleitet – ein politisches Manöver gegen diese Gruppen. Doch wie in einem Artikel eines israelischen Professors in Ha’aretz betont wurde, spielen diese Gruppen, wenn auch unabsichtlich, eine Rolle dabei, dass sich die »Besatzung festsetzt«. Der Autor erklärte:

»Auch wenn es das Ziel der linksgerichteten Gruppen ist, die Rechte der Palästinenser zu wahren, so ist es doch das unbeabsichtigte Resultat ihrer Aktivitäten, dass die Besatzung aufrechterhalten wird. Das Vorgehen der Armee abzumildern und zu beschränken, verschafft ihr eine menschlichere und legale äußere Fassade. Den Druck der internationalen Organisationen zu mindern und gleichzeitig das Widerstandspotenzial der palästinensischen Bevölkerung zu zügeln, erlaubt es der Armee, dieses Modell der Kontrolle über einen längeren Zeitraum zu erhalten.« (21)

Wenn es der israelischen Knesset somit gelingt, diese mächtigen NGOs loszuwerden, so legt sie damit die Saat dafür, dass das Druckventil in den besetzten Gebieten aufgeht. Das Potenzial für massive Proteste der Linken in Israel selbst und die Möglichkeit einer neuen Intifada – eines Aufstands – in den besetzten Gebieten erschiene dramatisch gestiegen. Israel und der Westen haben ihre Abneigung gegen Demokratie in der Region erkennen lassen. Als 2006 in Gaza demokratische Wahlen abgehalten wurden und die Hamas diese Wahlen gewann – was Israel und Amerika als die »falsche« Wahl betrachteten –, verhängte Israel eine gnadenlose Blockade gegen Gaza. Richard Falk, der ehemalige Menschenrechts-Beauftragte der Vereinten Nationen für die Palästinensergebiete, schrieb einen Artikel für Al Jazeera, in welchem er erklärte, durch die Blockade sei

»der Zufluss von Lebensmitteln, Arzneimitteln und Benzin widerrechtlich auf das Existenzminimum oder darunter eingeschränkt worden. Diese Blockade dauert bis heute an, die gesamte Bevölkerung von Gaza wird im größten Freiluftgefängnis der Welt festgehalten und ist Opfer einer der schlimmsten Formen kriegerischer Besatzung in der Geschichte der Kriegsführung.« (22)

Die Lage in den besetzten Gebieten wird durch die jüngste Veröffentlichung der »Palästina-Papiere« noch weiter angespannt. Sie enthalten Berichte über zwei Jahrzehnte geheimer israelisch-palästinensischer Vereinbarungen, die die schwache Verhandlungsposition der Palästinenserbehörde belegen. Die Dokumente bestehen zu großen Teilen aus weitreichenden Konzessionen, die die Palästinenserbehörde »in der Frage des Rückkehrrechts der palästinensischen Flüchtlinge, territorialer Zugeständnisse und der Anerkennung Israels« zu machen bereit war. Dabei wurde auch enthüllt, dass palästinensische Verhandlungsführer insgeheim zugestimmt hatten, fast ganz Ost-Jerusalem an Israel zu übergeben. Weiterhin wurde Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas (den Israel und Amerika der Hamas vorziehen) von einem hochrangigen israelischen Vertreter am Vorabend der Operation »Gegossenes Blei«, dem israelischen Angriff auf Gaza von Dezember 2008 und Januar 2009, bei dem mehr als 1.000 Palästinenser den Tod fanden, persönlich informiert: »Israelische und palästinensische Vertreter sollen über die gezielte Tötung von Aktivisten der Hamas und der Islamischen Jihad in Gaza gesprochen haben.« (23)

Daraufhin hat die Hamas die palästinensischen Flüchtlinge zu Protesten gegen diese Zugeständnisse hinsichtlich des »Rückkehrrechts« aufgerufen; die Verhandlungsführer hatten eingewilligt, dass nur 100.000 von fünf Millionen Flüchtlingen die Rückkehr nach Israel erlaubt werden sollte. (24) Ein ehemaliger US-Botschafter in Israel und Ägypten klagte: »Es besteht die Besorgnis, dass dadurch zusätzliche Probleme für ein Vorankommen entstehen.« (25). Auch wenn der Vorwurf erhoben wird, die Papiere könnten den Fortschritt des »Friedensprozesses« behindern, so zeigen sie doch deutlich, dass dieser »Friedensprozess« selbst ein Witz ist. Die Macht der Palästinenserbehörde reicht nur so weit, wie Israel ihr zugesteht, sie wurde eingerichtet als Methode des Umgangs mit einer internen palästinensischen Elite – nach dem Muster aller Kolonialmächte. Die Papiere enthüllen weiter, wie die sogenannte Palästinenser-»Behörde« nicht wirklich im Interesse des palästinensischen Volkes spricht oder arbeitet. Dies wird mit Sicherheit die Palästinenserbehörde (PA) und die Hamas weiter entzweien, doch das waren sie ja bereits. Gewiss, dies wird Probleme für den »Friedensprozess« bedeuten, aber dabei setzt man ja bereits voraus, dass es überhaupt ein »friedlicher« Prozess ist.

Steht Ägypten am Rande der Revolution?
Unruhe verbreitet sich selbst in Ägypten, dem persönlichen Tummelplatz des von den USA unterstützten und bewaffneten Diktators Hosni Mubarak, der seit 1981 regiert. Ägypten ist der wichtigste Verbündete der USA in Nordafrika und gehört seit Jahrhunderten zu den bedeutendsten Juwelen verschiedener Weltreiche, zunächst der Osmanen, dann der Briten und später der Amerikaner. Mit einer Bevölkerung, von denen 60 Prozent unter 30 sind, die 90 Prozent der Arbeitslosen in Ägypten stellen, sind die Bedingungen reif für eine Wiederholung der Ereignisse von Tunesien. (26)

Am 25. Januar 2011 erlebte Ägypten seinen »Tag des Zorns«, bei dem Tausende Demonstranten auf die Straße gingen, um gegen steigende Lebensmittelpreise, Korruption und die Unterdrückung von 30 Jahren Diktatur zu protestieren. Die Demonstrationen wurden mithilfe sozialer Netzwerke wie Twitter und Facebook vorbereitet. Als die Proteste begannen, sperrte die Regierung den Zugang zu diesen sozialen Netzwerken im Internet, genauso wie es die Regierung in Tunesien in den ersten Tagen des Protests, die zum Zusammenbruch der Diktatur führten, getan hatte. Ein Kommentator schrieb im Guardian:

»Ägypten ist nicht Tunesien. Es ist viel größer. 80 Millionen Menschen, im Vergleich zu zehn Millionen. Geografisch, politisch, strategisch gehört es in eine andere Liga – es ist die natürliche Führungsmacht der arabischen Welt und das bevölkerungsreichste Land. Doch viele der Missstände sind dieselben. Tunis und Kairo unterscheiden sich lediglich in der Größe. Wenn Ägypten explodiert, dann wird diese Explosion auch viel größer sein.« (27)

In Ägypten hat »eine Ad-hoc-Koalition aus Studenten, arbeitslosen Jugendlichen, Industriearbeitern, Intellektuellen, Fußballfans und Frauen, die über soziale Netzwerke wie Twitter und Facebook verbunden waren, eine Reihe von sich sehr schnell bewegenden, rasch den Standort wechselnden Demonstrationen in mindestens einem halben Dutzend ägyptischen Städten in Gang gesetzt.« Die Polizei griff gewaltsam durch, drei Demonstranten kamen ums Leben. Mit Zehntausenden Demonstranten auf den Straßen erlebte Ägypten die größten Demonstrationen seit Jahrzehnten, wenn nicht gar in der gesamten Amtszeit von Präsident Mubarak. Steht Ägypten am Rande der Revolution? Diese Frage zu beantworten, erscheint verfrüht. Man darf nicht vergessen, dass Ägypten (nach Israel) das zweitgrößte Empfängerland amerikanischer Militärhilfe ist und dass der Polizeistaats- und Militärapparat deshalb weit besser entwickelt ist und sicherer im Sattel sitzt als in Tunesien. Eindeutig regt sich jedoch etwas. Hillary Clinton sagte in der Nacht der Proteste: »Unserer Einschätzung nach ist die ägyptische Regierung stabil, sie sucht nach Wegen, die legitimen Bedürfnisse und Interessen des ägyptischen Volkes zu befriedigen.« (28) Mit anderen Worten: »Wir werden Tyrannei und Diktatur auch in Zukunft den Vorzug vor Demokratie und Befreiung geben.« Was gibt’s also sonst Neues?

Einigen Schätzungen zufolge gingen in Kairo, Alexandria, Suez und anderen ägyptischen Städten bis zu 50.000 Demonstranten auf die Straße. (29) Den Protesten wurde mit der üblichen Brutalität begegnet: Demonstranten wurden geschlagen, Tränengas und Wasserwerfer eingesetzt, um sie auseinanderzutreiben. Bilder und Filme aus Ägypten »zeigten Demonstranten, die Polizisten die Straße hinab jagten. Ein Demonstrant stieg auf ein Feuerwehrauto und fuhr es weg.« (30) Spät am Abend der Proteste kursierten Gerüchte, die First Lady von Ägypten, Suzanne Mubarak, sei möglicherweise nach London geflohen; schon zuvor hatte es geheißen, Mubaraks Sohn und möglicher Nachfolger sei ebenfalls nach London geflohen. (31)

Steht uns eine globale Revolution bevor?
In der ersten Phase der weltweiten Wirtschaftskrise, im Dezember 2008, warnte der IWF die Regierungen vor der Aussicht »gewalttätiger Unruhen auf den Straßen«. Der Chef des IWF warnte, dass »gewalttätige Demonstrationen in Ländern auf der ganzen Welt ausbrechen könnten, wenn das Finanzsystem nicht dahingehend reorganisiert würde, dass es der Allgemeinheit und nicht nur einer kleinen Elite nützt.« (32)

Im Januar 2009 erklärte Dennis Blair, damals Obamas Geheimdienstkoordinator, vor dem Geheimdienstausschuss des US-Senats, die größte Bedrohung für die nationale Sicherheit der USA sei nicht der Terrorismus, sondern die weltweite Wirtschaftskrise:

»Ich möchte mit der weltweiten Wirtschaftskrise beginnen, denn sie bahnt sich bereits als die schwerste seit Jahrzehnten, wenn nicht Jahrhunderten, an … Wirtschaftskrisen erhöhen das Risiko von Regime-bedrohender Instabilität, wenn sie sich ein oder zwei Jahre hinziehen … Und Instabilität kann die ohnehin brüchige Kontrolle über Gesetz und Ordnung in den Entwicklungsländern lockern, was dann in gefährlicher Weise auf die internationale Gemeinschaft überschwappen kann.« (33)

2007 wurde ein Bericht des britischen Verteidigungsministeriums veröffentlicht, eine Einschätzung der globalen Trends für die kommenden drei Jahrzehnte. Zur Einschätzung des »Globalen Ungleichgewichts« hieß es in dem Bericht, in den kommenden 30 Jahren werde

»die Kluft zwischen Reich und Arm aller Voraussicht nach breiter werden, absolute Armut bleibt eine weltweite Herausforderung … Ungleichgewichte bei Reichtum und Vorteilen werden deshalb stärker sichtbar, einschließlich der damit einhergehenden Unzufriedenheit und Verbitterung, selbst bei der wachsenden Zahl derer, denen es wahrscheinlich materiell besser geht als ihren Eltern und Großeltern. Absolute Armut und vergleichbare Benachteiligung werden das Gefühl von Ungerechtigkeit bei denen wecken, deren Erwartungen nicht erfüllt werden, was zu wachsenden Spannungen und Instabilität führen wird, sowohl innerhalb einer Gesellschaft als auch zwischen Gesellschaften; sie werden sich gewaltsam in Unruhen, Kriminalität, Terrorismus und Aufständen Luft machen. Möglicherweise führen sie auch zum Wiederaufleben nicht nur anti-kapitalistischer Ideologien, vielleicht in Verbindung mit religiösen, anarchistischen oder nihilistischen Bewegungen, sondern auch des Populismus und zur Wiederbelebung des Marxismus.« (34)

Weiterhin wurde in dem Bericht vor den Gefahren gewarnt, die den etablierten Mächten von einer Revolution durch eine unzufriedene Mittelschicht drohen:

»Die Mittelschicht könnte zu einer revolutionären Klasse werden, welche die Rolle einnimmt, die Marx dem Proletariat zugedacht hatte. Die Globalisierung des Arbeitsmarkts und der Rückgang bei staatlichen Wohlfahrtsleistungen und Beschäftigung könnte das Verbundenheitsgefühl der Menschen mit ihrem jeweiligen Staat mindern. Die wachsende Kluft zwischen ihnen und einer kleinen Anzahl sichtbar auftretender Superreicher könnte der Enttäuschung über die Leistungsgesellschaft Auftrieb geben, während die wachsende städtische Unterschicht zunehmend zu einer Bedrohung für gesellschaftliche Ordnung und Stabilität wird, wenn spürbar wird, welche Belastung durch die aufgelaufenen Schulden entsteht, und Renten nicht gezahlt werden können. Angesichts dieser doppelten Herausforderung könnte sich die Mittelschicht der Welt zusammenschließen, den Zugang zu Wissen, Ressourcen und Kenntnissen nutzen, um im eigenen Klasseninteresse länderübergreifende Prozesse zu gestalten.« (35)

Wir haben jetzt den Punkt erreicht, an dem die weltweite Wirtschaftskrise sich bereits länger als zwei Jahre hinzieht. Die gesellschaftlichen Auswirkungen werden allmählich – weltweit – spürbar, als Resultat der Krise und der koordinierten Antwort darauf. Da die weltweite Wirtschaftskrise die Länder der sogenannten Dritten Welt am schwersten getroffen hat, werden die gesellschaftlichen und politischen Folgen dort ebenfalls zuerst spürbar werden. Im Rahmen des heutigen rekordverdächtigen Anstiegs der Lebensmittelpreise werden sich, wie schon 2007 und 2008, umgehend weitweit Hungeraufstände ausbreiten. Dieses Mal ist die Lage jedoch wirtschaftlich viel schlechter und gesellschaftlich viel verzweifelter; es herrscht weit mehr politische Unterdrückung.

Dieses steigende Missbehagen wird sich von den Entwicklungsländern bis in unsere gemütlichen Wohnungen im Westen ausdehnen. Wenn sich erst die raue Erkenntnis durchsetzt, dass es in der Wirtschaft keinen »Aufschwung«, sondern vielmehr eine Depression gibt, und wenn unsere Regierungen im Westen weiter ihre demokratische Fassade fallenlassen und Rechte und Freiheiten außer Kraft setzen, Überwachung und »Kontrolle« verstärken und gleichzeitig weltweit eine zunehmend militaristische und kriegshetzerische Außenpolitik betreiben (vornehmlich in dem Bemühen, das Globale Erwachen auf der ganzen Welt zu unterdrücken oder niederzuschlagen), dann werden wir im Westen erkennen: »Wir sind alle Tunesier.«

1967 sagte Martin Luther King in seiner berühmten Rede »Jenseits von Vietnam«:

»Ich bin davon überzeugt, dass wir als Nation eine radikale Revolution unserer Werte brauchen, wenn wir auf der richtigen Seite der Weltrevolution stehen wollen. Wir müssen schleunigst den Wandel vollziehen von einer Gesellschaft, die sich auf ›Sachen orientiert‹ zu einer Gesellschaft, die sich auf ›Personen orientiert‹. Wenn Maschinen und Computer, Profitstreben und Eigentumsrechte wichtiger sind als die Menschen, dann lässt sich der gewaltige Dreibund von Rassismus, Materialismus und Militarismus nicht bezwingen.« (36)

Das war Teil 1 des Aufsatzes »Nordafrika und das Globale Politische Erwachen«, der das Entstehen von Protestbewegungen vornehmlich in Nordafrika und der arabischen Welt zum Thema hat, diese jedoch in den Rahmen eines breiteren Globalen Erwachens stellt.

Teil 2 wird sich mit der Reaktion des Westens auf das »Erwachen« in dieser Region beschäftigen; nämlich in der zweigleisigen Strategie von Unterstützung für unterdrückerische Regimes und gleichzeitiger Werbung für eine »Demokratisierung« in einem großen neuen Projekt von »demokratischem Imperialismus«.

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