Montag, 3. Mai 2010

Dritter Opiumkrieg

von Volker Bräutigam

Der verbrecherische Krieg in Afghanistan sei zwar aussichtslos, schütze jedoch den Mohnanbau am Hindukusch, lautet ein oft gehörtes, sarkastisches Argument der Kritiker. Es fasst die Drogenherstellung nur als eine Kriegsfolge auf, obwohl sie, durchaus erkennbar, einer der US-Kriegszwecke ist.
93% des weltweit produzierten Opiums, Rohstoff für Morphium und Heroin, kommen aus Afghanistan. Anno 2007 waren es 8200 Tonnen, im Jahr darauf 8300; das Ergebnis des vorigen Jahres fällt wegen einer schlechteren Mohnernte etwas geringer aus, exakte Zahlen gibt es noch nicht.
95% des afghanischen Opiums werden weiterverarbeitet und ergeben 80 Tonnen hochreines Heroin, berichten die Vereinten Nationen. Fast die Hälfte, mehr als 35 Tonnen, wurden 2009 nach Russland geschmuggelt (übereinstimmende Quellen: UN und russische Drogenpolizei). Man darf vermuten – konkrete Daten sind nicht verfügbar –, dass erhebliche Anteile davon weiterverschoben wurden, vor allem in die urbanen Zentren der Volksrepublik China.
Allein nach Russland gelangt demnach fast dreimal soviel Heroin wie in die USA, nach Kanada und Westeuropa zusammen. Victor Ivanov, Leiter des Föderalen Dienstes für Drogenkontrolle (russisch: FSKN), erklärte beim Nato-Russland-Rat am 23. März in Brüssel, der Drogenzustrom aus Afghanistan sprenge alle Vorstellungen. Eine Million Menschen seien seit 2001 (dem Jahr des Kriegsbeginns und der Besetzung Afghanistans durch US- und Nato-Truppen) schon an den Opiaten vom Hindukusch gestorben. Ivanov: «Fast jede Familie ist inzwischen direkt oder indirekt davon betroffen.» 21% des weltweit verschobenen Heroins aus Afghanistan seien 2008 auf Russlands Schwarzmarkt abgesetzt worden, trotz aller Abwehrmassnahmen Moskaus sei die Tendenz steigend.
Legte man diesen 21% die konkreten Angaben der UN zugrunde (Weltproduktion 86 Tonnen Heroin), so hätten russische Konsumenten Suchtmittel aus 18 Tonnen Heroin aufgenommen – und weitere 17 Tonnen des nach Russland geschleusten reinen Heroins wären von dort nach China weitergeschmuggelt worden. Das erhellt, warum Moskau und Peking vor drei Jahren enge grenzüberschreitende Zusammenarbeit im Kampf gegen die Drogenflut verabredeten. Der Heroinhandel bedroht die Volksgesundheit, die wirtschaftliche und die innenpolitische Stabilität ihrer beiden Staaten.
Der Leiter des russischen Gesundheitsdienstes, Dr. Gennadij Onischtschenko, hatte Mitte März in Moskau mitgeteilt, an Über­dosen Heroin stürben jährlich zwischen 30 000 und 40 000 junge Russen. Hinzu kämen weitere 70 000 Tote auf Grund von Begleitkrankheiten des Drogenmissbrauchs (Aids, Sepsis usw.). 2 bis 2,5 Millionen Angehörige der jungen Generation im Alter zwischen 18 und 39 Jahren seien drogenabhängig. 550 000 davon offiziell registriert. Jahr für Jahr würden 75 000 weitere junge Menschen süchtig, überproportional viele Studenten und Jungakademiker.
Kann man bereits von einer Enthauptung der intellektuellen Elite Russlands sprechen? Suchtkranke Russen geben jährlich umgerechnet 17 Milliarden US-Dollar für Heroinbeschaffung aus, berichtet die Nachrichtenagentur RIA Novosti. Die Polizei habe allein im März dieses Jahres mehr als 200 Drogenküchen ausgehoben, in denen Heroin für den Strassenverkauf verschnitten wurde.
Wie den Russen ergeht es den ebenfalls durch Drogen sabotierten innerasiatischen Republiken und Pakistan. Auch dort geht der Drogenschmuggel mit der HIV-Ausbreitung einher, wie schon seit Jahrzehnten in Iran.
Das für den russischen Markt bestimmte Heroin aus Afghanistan wird über Tadschikistan bzw. Usbekistan (beide Länder stehen unter US-Einfluss) nach Russland geschmuggelt. Der Verdacht liegt nahe, dass US-amerikanische Geheimdienste das subversive Geschehen organisieren. Ivanov hatte dem Nato-Russland-Rat in Brüssel zwar vorgeschlagen, mindestens 25% der afghanischen Mohnanbaufläche zerstören zu lassen. Die Nato, US-dominiert, lehnte jedoch ab. James Appathurai, Nato-Sprecher, äusserte vor Journalisten zynisch: «Wir können nicht die einzige Einkommensquelle für Menschen versiegeln, die im zweitärmsten Land der Welt leben, obwohl wir ihnen keine Alternative zu bieten haben.»
Menschenverachtende Lüge. Die USA und ihre Vasallen führen nicht nur «Krieg gegen den Terrorismus» am Hindukusch (im geostrategischen sowie Rohstoff- und Energietransfer-Interesse), sondern sie schützen absichtlich die Einkommensbasis der afghanischen Mohnbauern.
Vor dem Krieg, unter dem Taliban-Regime, war Mohnanbau in Afghanistan streng kontrolliert, Mohn war nur als Lebensmittel erlaubt. Auf Drogenherstellung und -vertrieb stand die Todesstrafe. Der afghanische Heroin-Anteil am Weltmarkt betrug nicht einmal 5 Prozent. Die afghanischen Bauern waren dennoch nicht ärmer als heute. Auch zuvor, während der sowjetischen Intervention und der kommunistischen Regierung Afghanistans, gab es dort nur geringe Drogenproduktion. Sie gedieh erst nach der US-amerikanischen Subversion (Ausrüstung und Unterstützung der Volksmujaheddin, aus denen später die Taliban hervorgingen).
Der afghanische Markt schlug voriges Jahr Mohn für 3,4 Milliarden US-Dollar um. (Quelle: J. Mercille, Universität Dublin). Nur 21% verblieben den Bauern. 75% strichen die korrupten Verbündeten der USA und der Nato ein: Regierungsbeamte, lokale ­Polizei, regionale Händler und Spediteure. 4% fielen wie üblich für die Taliban ab, geduldet von der Nato. Denn der Gegner muss erhalten werden – im Interesse ständiger US-Präsenz. Mache sich jeder seinen Reim drauf.
Russland beruft sich vergeblich auf die UN-Beschlüsse, die alle Mitgliedsstaaten verpflichten, gegen den Drogenschwarzmarkt vorzugehen. Man versteht deshalb, dass Ivanov mit Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen in Brüssel zusammenkrachte, als die Nato sich schlankweg weigerte, etwas gegen den afghanischen Mohnanbau zu unternehmen.
Wir haben es mit der modernen (US-amerikanischen) Variante eines «Opiumkriegs» zu tun, der mit der gleichen Zielsetzung geführt wird, welche die Briten im Ersten und im Zweiten Opiumkrieg (1839–1842 sowie 1856–1860) gegen das Kaiserreich China der Qing-Dynastie verfolgten. Das dem Reich der Mitte aufgezwungene Opium bewirkte bekanntlich die völlige Zersetzung der chinesischen Gesellschaft und jene innenpolitische Instabilität, die schliesslich 1900 den sogenannten Boxer-Aufstand auslöste – den erwünschten Vorwand zum europäischen Einmarsch.
Nun könnten die Vereinten Nationen ihr Isaf-Mandat, mit dem sie erst nachträglich den Nato-«Einsatz» in Afghanistan legitimierten, um den Kampf gegen den Mohnanbau erweitern und in echter Wiederaufbauhilfe alternative Anpflanzungen fördern. Dann stünden die US- und die Nato-Besetzer in der Pflicht, die Opiumproduktion abzustellen. Ein solcher UN-Beschluss kam bisher nicht zustande. Auch darauf mache sich jeder seinen Vers.
Opium bzw. Heroin schädigt den Menschen bis in seine genetischen Grundlagen – wie damals im chinesischen Kaiserreich so heute in Russland, in der Volksrepublik China und in ihren Nachbarländern. Gegen Moskau und Peking, die beiden Hauptkonkurrenten, richten Washington und die Nato die bewährte Giftwaffe der Drogen. Das ist ein wesentlicher Kampf im Afghanistan-Krieg, in seiner Dimension öffentlich kaum diskutiert.

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