Freitag, 26. September 2008

Die Wahrheit über das Schengener Abkommen

Bringt Schengen wirklich mehr Sicherheit?
von Dr. iur. Thomas Hug, Basel

Die allgegenwärtige Propaganda für einen Beitritt zum Schengener Abkommen operiert vor allem mit dem Argument, dass Schengen der Schweiz mehr Sicherheit bringen würde. Dass dies indessen so nicht zutrifft, geht aus der Zielsetzung des Abkommens hervor und lässt sich vor allem auch statistisch belegen.

Das Schengener Abkommen wurde seinerzeit nicht darum abgeschlossen, um den beteiligten Staaten mehr Sicherheit zu bringen. Es ging vielmehr allein darum, im Schengen-Raum die Grenzen zu öffnen. Weil aber erkannt wurde, dass die Abschaffung der Grenzkontrollen zwangsläufig zu Sicherheitsdefiziten führt, mussten die Schengen-Staaten ersatzweise flankierende Massnahmen treffen, um den Sicherheitsverlust zumindest teilweise wieder zu kompensieren.

Als grösster Vorteil eines Beitritts zu Schengen wird heute der Anschluss an das Schengener Informationssystem (SIS) genannt. Ein Blick über die Grenzen stellt diese Hoffnung aber ernsthaft in Frage. Dem Schengener Erfahrungsbericht des deutschen Bundesministeriums des Innern für das Jahr 2003 (der Bericht für das Jahr 2004 erscheint erst im September) ist zu entnehmen, dass in Deutschland in einem Jahr gerade 156 Festnahmen auf Grund von SIS-Ausschreibungen erfolgt sind. Da in Deutschland pro Jahr rund 210000 Festnahmen erfolgen, bedeutet dies, dass damit weniger als 1 Promille aller Festnahmen auf Grund von SIS erfolgt sind! An einer Informationsveranstaltung des Verbandes der Schweizerischen Polizeibeamten zu Schengen hat der norwegische Polizeichef kürzlich die Aussage gemacht, dass in Norwegen in einem Jahr zehn Festnahmen aufgrund von SIS erfolgt seien. Diese Zahlenbeispiele sprechen für sich und zeigen die quantitative Bedeutungslosigkeit von SIS für die Fahndungserfolge und damit die Sicherheit der angeschlossenen Staaten.

Bei einem Vergleich der Bevölkerungszahlen und der Polizeidichte von Deutschland mit der Schweiz und einer Umrechnung der deutschen, auf Grund von SIS erfolgten Festnahmen auf die Schweiz könnte in unserem Land gerade einmal mit jährlich 11 bis 14 Festnahmen von im SIS ausgeschriebenen Personen gerechnet werden. Diesen marginalen Erfolgsaussichten steht der durch Schengen vorgeschriebene Verzicht auf Personenkontrollen an der Grenze gegenüber. Im Jahr 2004 hat das Grenzwachkorps an Grenzübergängen aber 35294 Personen festgenommen und der Polizei übergeben; 88735 Personen wurden an den Grenzübergängen zurückgewiesen, weil die Einreisevoraussetzungen nicht erfüllt waren (Statistik Eidgenössische Zollverwaltung, EZV 2004).

Auf diese Kontrollen und die damit verbundenen Erfolgszahlen von Festnahmen und Zurückweisungen müsste aber bei einem Beitritt zu Schengen zwangsläufig verzichtet werden. Unzutreffend ist dabei die gelegentlich gehörte Bedeutung, dass ja im Rahmen der auch in Zukunft stattfindenden fiskalischen Zollkontrollen auch weiterhin Personenkontrollen vorgenommen werden könnten. Dies würde der expliziten Zielsetzung von Schengen widersprechen und seitens der übrigen Schengenstaaten nicht akzeptiert. Die genannten Zahlen beweisen deutlich, dass Schengen nicht mehr, sondern erheblich weniger Sicherheit bringen würde! Keine Hilfe bietet in diesem Zusammenhang auch das Argument, dass der Wegfall der Personenkontrollen an der Grenze durch Ersatzmassnahmen wie insbesondere Schleierfahndung im Hinterland wettgemacht werden könnte. Wer soll solche Kontrollen im Hinterland des schweizerischen Grenzraums durchführen? Etwa das Grenzwachkorps, das mit seinen heute schon knappen Personalbeständen nach einer Annahme von Schengen weiterhin die fiskalische Zollkontrolle an den Grenzübergängen sicherstellen müsste? Oder etwa gar die Polizeikorps der Grenzkantone, die sich zu Recht über chronischen Unterbestand beklagen und schon heute nach eigenen Angaben nicht einmal mehr in der Lage sind, ihre angestammten Aufgaben vollumfänglich zu erfüllen?

Als weiteres Pro-Argument nennen die Befürworter von Schengen die angeblichen Vorteile der Übereinkunft von Dublin zur Senkung von Asylbewerberzahlen. Auch hier zeigt ein Blick in die Statistik unseres Nachbarlandes Deutschland aber Erstaunliches. Dort sind in den Jahren 2001 bis 2004 insgesamt 327777 Asylgesuche gestellt worden. Im gleichen Zeitraum konnte Deutschland auf Grund des Übereinkommens von Dublin 7929 Asylbewerber an andere Staaten, wo diese bereits früher einen Asylantrag gestellt hatten, abschieben. Ebenfalls im gleichen Zeitraum musste Deutschland aber selbst aus anderen Staaten auf Grund des Dubliner Übereinkommens 11554 Asylbewerber, die zuerst in Deutschland einen Antrag gestellt hatten, übernehmen. Im Resultat hat «Dublin» Deutschland im Zeitraum von 2001 bis 2004 damit unter dem Strich eine Zunahme um 3635 Asylbewerber beschert, nicht aber eine Abnahme, wie uns dies die Schengen/Dublin-Befürworter glauben machen wollen (Statistik des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, Nürnberg, für die Jahre 2001-2004).

Auch der Verwaltungsaufwand hat in Deutschland durch «Dublin» erheblich zugenommen. Im Jahr 2004 beispielsweise waren 32 Vollzeitbeamte ausschliesslich damit beschäftigt, Rücknahmeanträge im Rahmen von Dublin zu bearbeiten. Die deutschen Zahlen und Erfahrungen dürften im Falle einer Einführung von «Dublin» auf die Schweiz anteilmässig in etwa übertragbar sein. Die Behauptung der Befürworter, dass mit «Dublin» Asylbewerberzahlen gesenkt und damit Millionen gespart werden könnten, ist damit nicht haltbar. Im Gegenteil wären allenfalls sogar noch mehr Asylbewerber, sicher aber ein wesentlich erhöhter Verwaltungsaufwand und damit höhere Kosten zu erwarten.

Die dargelegten Fakten beweisen, dass Schengen der Schweiz nicht mehr, sondern weniger Sicherheit bringen würde.

Mittwoch, 24. September 2008

Eine Zukunft ohne WTO

von Reinhard Koradi, Dietlikon

Warum lassen sich die Völker eine Wirtschaftsform aufzwingen, die ihnen jede Entscheidungs- und Handlungsfreiheit in bezug auf die Gestaltung ihrer Wirtschafts- und damit auch Gesellschaftspolitik raubt?
Es darf doch nicht sein, dass Regierungen, Volksvertreter, Bürgerinnen und Bürger sich kleinmütig dem Diktat der WTO (Welthandelsorganisation) unterwerfen. Einer Organisation, die sich vorbehaltlos in den Dienst der Reichen und der transnationalen Konzerne stellt, müssten – abgestimmt auf die grundlegenden Bedürfnisse nationaler Volkswirtschaften – klare Grenzen gesetzt werden. Der von der WTO rücksichtslos vorangetriebene globale Freihandel bedroht die Lebensgrundlagen der einzelnen Völker und verletzt deren Selbstbestimmungsrecht aufs Gröbste.
Dennoch preisen die Regierungs- und Interessenvertreter den Freihandel und die damit verbundene Liberalisierung der Produktion und Vermarktung von Gütern und Dienstleistungen als Wunderwaffe gegen Hunger und Armut. Wohlstand durch Wirtschaftswachstum wird propagiert. Doch wir sehen ein anderes, sehr düsteres Bild. Die Reichen werden reicher, Hunger und Armut zerstören Leben und erfassen immer mehr Menschen. Der innovationsfördernde Wettbewerb zwischen den unterschiedlichen Wirtschaftssystemen der Nationen (Marktwirtschaft, soziale Marktwirtschaft, demokratische oder diktatorische Systeme) wird ausgeschaltet. Anstelle eines effektiven Leistungs- und Qualitätswettbewerbs tritt ein Nivellierungs- und Harmonisierungsprozess, der jeden Fortschritt abwürgt und Mensch und Natur verarmen lässt. Die Strukturen einer lebendigen, menschenwürdigen Wettbewerbswirtschaft (heterogene Betriebsgrössen und Branchenstruktur in überblickbaren Räumen) werden durch die von den Finanzströmen ausgelösten Flutwellen weggespült und die Märkte durch transnationale Konzerne monopolisiert.
Wirtschaft für die Menschen

In den vergangenen Jahren verdrängte die Kapitalwirtschaft die Volkswirtschaft. Das auf die Bedürfnisse der Menschen ausgerichtete Wirtschaften innerhalb der Nationalstaaten (was übrigens wirtschaftliche Aktivitäten über die Grenzen nicht ausschliesst) muss­­te einem einseitig auf Reichtumsförderung ausgerichteten neoliberalen Wirtschaftssystem weichen. Dabei fand ein tiefgreifender Wertewandel statt. Neu hat der Mensch der Wirtschaft als Produktions- und Konsumfaktor zu dienen. Wer als Wirtschaftssubjekt den ökonomischen Anforderungen nicht gerecht werden kann, wird ausgemustert. Alles Leben soll kommerziell genutzt und effizienter werden. Institutionen und Arbeitsbereiche, die das Gemeinwohl und den Zusammenhalt unter den Menschen als oberstes Ziel verfolgten, werden durch Reformen und Umstrukturierung marktfähig gemacht. Vor allem die Grundversorgung, die der Existenzsicherung aller Menschen dient, soll der Kontrolle durch das Volk entzogen und dem Markt zugeführt werden. Der Staat und die Gemeinden wären nicht in der Lage, Unternehmen wirtschaftlich zu führen, argumentieren die neoliberalen Geister und fordern daher, die Grundversorgung privaten Unternehmen zu überlassen. Eine Argumentation, die als verdeckter Angriff auf die Nationalstaaten entlarvt werden muss. Eine intakte und leistungsfähige Grundversorgung stärkt die Zusammengehörigkeit und Solidarität unter den Menschen und bildet damit den «notwendigen Kitt» innerhalb der Nationen.
Die neoliberale Wirtschaftstheorie sieht in der Grundversorgung jedoch nur einen Zukunftsmarkt mit erheblichem Wachstums­potential. Private Unternehmen – vor allem deren Kapitalgeber – verfolgen allein das Ziel, die Grundversorgung in ihre Gewalt zu bekommen, um sehr schnell sehr reich zu werden. Damit steht die Privatisierung der Grundversorgung in einem eklatanten Widerspruch zur öffentlichen Aufgabe, allen Menschen, unabhängig von ihrer Kaufkraft, Produkte und Dienstleistungen zur Verfügung zu stellen. Die Gewinnmaximierung durch Monopole löst die demokratische Forderung nach Mitbestimmung, Chancengleichheit, Solidarität und Subsidiarität ersatzlos auf. Der (Schulden-)Befreiungsschlag der Kommunen hält dann auch einer näheren Überprüfung nicht stand. Infrastruktur (Bahn, Post, Strassennetz usw.), Energie- und Wasserversorgung, Bildungs- und Gesundheitswesen gehören in die Hand des Staates. Die öffentliche Hand hat längst ihre Fähigkeit bewiesen, Unternehmen erfolgreich zu führen. Erfolg hat eben im Zusammenhang mit der Grundversorgung andere Massstäbe und wird allein durch die Kontrolle mündiger Bürger beurteilt. Es gibt bestimmt unzählige Beispiele, die die erfolgreiche Unternehmensführung durch die öffentliche Hand bestätigen.
Die Schweiz zum Beispiel, ein rohstoffarmes Land, hat ihre Wirtschaftskraft auf einer weitsichtigen und verantwortungsvollen Entwicklung des öffentlichen Sektors aufgebaut. Der freie Zugang der Bürger zu den existenzsichernden öffentlichen Gütern (der übrigens über Gebühren und Steuern der Bevölkerung finanziert wurde) festigte nicht nur den Zusammenhalt im Land, sondern öffnete auch den Raum für unternehmerisches Denken und Handeln. Mit der Grundversorgung wurde der Grundstein für eine wettbewerbsfähige Schweiz gelegt. Eine Wettbewerbsfähigkeit, deren Wurzeln unter anderem im Friedensabkommen zwischen den Sozialpartnern und der daraus entstehenden sozialen Sicherheit sowie der Leistungsbereitschaft und -fähigkeit der arbeitsfähigen Bevölkerung verankert sind. Werden diese Voraussetzungen noch durch Eigenverantwortung und Solidarität ergänzt, kann die Wirtschaft ihre Aufgabe innerhalb der Gemeinschaft erfüllen und zu einer Volkswirtschaft führen, die allen Menschen mehr Lebensqualität bringt. Höhere Lebensqualität für die Gesamtbevölkerung kann nur in überschaubarem, nationalem Rahmen verfolgt werden und bedingt eine national ausgerichtete Wirtschaftspolitik, die ernsthaft eine gerechte Einkommensverteilung, Vollbeschäftigung, Zukunftssicherung, stabile Preise und eine ausgeglichene Zahlungsbilanz anstrebt. Eine globale neoliberale Wirtschaftsordnung wird diesen Anforderungen nie gerecht. Es gibt daher nur einen Weg: Wir müssen der globalen neoliberalen Wirtschaftsordnung eine klare Absage erteilen.
WTO als Katalysator der Globalisierung ausschalten

Die Finanzwelt der Reichen hat in der WTO einen mächtigen Partner für die umfassende Kommerzialisierung der Welt gefunden. Dabei verlieren die Staaten ihre Gestaltungsmöglichkeiten und die Selbstbestimmung über die wirtschaftliche Ausrichtung ihrer Länder. Mit der Globalisierung und Privatisierung wird aber Volksvermögen geplündert. Public Private Partnership (Übernahme von öffentlichen Aufgaben durch Private) ist ein Trojanisches Pferd. Es entmündigt die Bürger, entlässt die Behörden aus der Verantwortung und vernichtet Volksvermögen. So werden nur zu oft staatliche Unternehmen zu Schleuderpreisen an Private verhökert. Meistens sind es dann Grosskonzerne, die über Energie-, Wasserversorgung, Bahnnetz, Spitäler und andere öffentliche Betriebe bestimmen. Statt Wettbewerb ernten die Bürger verlorene Mitbestimmung, höhere Abgaben und Tarife und erhebliche Qualitätseinbussen.
Daher ist es angebracht, der Privatisierung und Liberalisierung den Kampf anzusagen. Die Behörden sind aufzufordern, ihren Auftrag zur Grundversorgung ernst zu nehmen. Zumindest sind die sogenannt sensiblen Bereiche vom Einfluss der WTO zu befreien. Die Grundversorgung hat in den WTO-Verträgen keinen Platz. Es ist Aufgabe der Nationalstaaten, ihren Bürgern eine existenzsichernde Grundversorgung zu garantieren. Und sollte der Staat an Grenzen stossen, dann sind keine privaten Firmen, sondern die Bürger gefordert. Es gibt nämlich wohl kaum einen Bereich, der nicht im Rahmen einer Genossenschaft zum Wohl der betroffenen Menschen geführt werden kann. Eigenverantwortung, Solidarität und die Bereitschaft zur Selbsthilfe sind erfolgversprechender als der Ruf nach WTO-Zwängen und privaten Geldgebern. •

Montag, 22. September 2008

Propaganda gegen Russland

Warum «die Russen» in der Schweiz «böse» gemacht werden
Stossrichtung der Medienkampagne in der Schweiz

rt. In einigen führenden Medien («Neue Zürcher Zeitung», DRS) werden Informationen eingespeist, dass sich die «Bedrohungslage» geändert habe und Russ­land nun eine Bedrohung für «den Westen» geworden sei (vgl. obenstehenden Artikel).
Nicht nur die Berichterstattung über den Georgien-Konflikt ist manipulativ. Auch auf anderer Ebene wird nachgezogen. Bilder des sowjetischen Einmarsches von 1968 in Prag wurden bewusst mit der Georgien-Krise verknüpft – die Sowjetunion (Russland) als vermeintlicher Aggressor –, und schliess­lich wird in den vergangenen Wochen verstärkt an die Stimmungsmache aus dem kalten Krieg angeknüpft. Alte verstaubte Feindbilder werden sukzessive ins Unterbewusstsein gespeist.
Während die US-Geostrategen Russland in den Zangengriff nehmen – US-Raketen in Polen und Tschechien, Besetzung Afghanistans, Camp Bondsteel im Kosovo als Basis und schliess­lich der durch die USA unterstützte Überfall Georgiens auf Südossetien –, wird gezielt das Feindbild «Russland» in Europa aufgebaut. Eine mentale Front soll errichtet werden, der dann eine materielle Front folgen kann: Der emotionale Boden für ein sogenanntes Verteidigungsbündnis gegen einen «bösen Feind» wird gelegt. Das ist Kriegspropaganda. Ein Etappenziel dabei ist, die Stimmung dafür zu schaffen, dass die Schweizer Armee als zukünftiges Nato-Modul umgebaut werden kann. Dazu wird systematisch das gewünschte Meinungsbild aufgebaut.
Eine Artikelserie in der «Neuen Zürcher Zeitung», in der deutsche Militärstrategen zu Wort kamen und alle völkerrechtlichen Prinzipien ignorierten, sollte die nationalrätliche Diskussion um die Zukunft der Schweizer Armee mental vorbereiten (vgl. Zeit-Fragen Nr. 37 vom 8. September). Jüngstes Beispiel im gleichen Stil ist die Besprechung der alten Angriffspläne des Warschauer Pakts aus den 70er Jahren («Neue Zürcher Zeitung» vom 13. September, vgl. Artikel oben). Im Kontext der übrigen Berichterstattung soll der Eindruck entstehen, die Schweiz sei umsonst neutral, nur der Anschluss an ein starkes militärisches Bündnis könne das Land noch vor den «bösen Russen» retten. Der unselige Ruf nach einem Bündnis erinnert unangenehm an die Anschlusspolitik der 30er Jahre.
Weltfremd mutet den nachdenklichen Leser diese Propagandawalze in den Medien an. Wo sind die notwendigen Überlegungen, wie eine Eskalation vermieden werden kann? Wo sind die konstruktiven Gedanken zur Durchsetzung des Völkerrechts, wie es für alle Nationen verbindlich vorgeschrieben ist? Wo ist eine kritische Nebenbemerkung zur US-amerikanischen Geopolitik zu lesen? Wer berichtet vom alltäglichen Leben der russischen Bevölkerung mit ihren Sorgen und Nöten? Und wo bleibt die redaktionelle Eigenständigkeit? •

rt. Immer wieder berichtet Zeit-Fragen über Desinformation, Medienkampagnen und PR-Aktionen, die Nachdenken verhindern, gezielt Gefühle hervorrufen oder schlicht manipulieren sollen. Dass dabei die Medien (Presseerzeugnisse, Bilder, Filme, Musik, Tondokumente) eine zentrale Rolle spielen, ist spätestens seit Adolf Hitlers Propagandaminister Joseph Goebbels allgemein bekannt. Die Manipulationstechniken sind jedoch in den vergangenen 70 Jahren raffinierter geworden, ganze «Wissenschaftszweige» beschäftigen sich damit. Heute werden «Meinungsteppiche» produziert. Nicht eine einzige plumpe Manipulation, sondern ein Gewebe von Halbwahrheiten oder selektiv ausgesuchten «Tatsachen» wird über Monate, manchmal über Jahre, gezielt gestreut. Dadurch entsteht ein «Bild». Der Beobachter hat den Eindruck, er ziehe eigene Schlüsse. Dass diese Schlüsse so gewollt worden sind, entzieht sich bei oberflächlicher Betrachtung, jedoch nur bei oberflächlicher Betrachtung.

Samstag, 13. September 2008

Wie Europa den US-Imperialismus stoppen könnte

PNEC – Project for The New European Century
von Jochen Scholz, Berlin*

Als Staat «Interessen» zu haben gilt in der deutschen Bevölkerung vielfach noch immer als unanständig, obwohl durchaus gesehen wird, dass Deutschland Objekt der Interessenlage anderer ist. Vielleicht liegt hier der Grund für in unserem Land besonders enthusiastisch geführte Menschenrechts- und Burka-Befreiungsdebatten. Vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte von 1933 bis 1945 und der bis 1990 eingeschränkten Souveränität ist verständlich, dass die Westbindung und -Unterordnung während des Systemkonfliktes mit seinem spezifischen sicherheitspolitischen Kontext wenig Raum liess, eigene Interessen zu formulieren und politisch zu verfolgen. Der ökonomische Riese Bundesrepublik Deutschland wählte den Weg einer bis heute andauernden Überidentifikation mit der Vormacht des Westens unter dem Rubrum «transatlantische Wertegemeinschaft».
Entscheidend dazu hat beigetragen, dass die Vereinigten Staaten die Deutschen kollektiv von ihrer Nazi-Vergangenheit entlasteten, indem sie ihnen – aus wohlverstandenem Eigeninteresse – die Brücken für die Wiederaufnahme in die Völkergemeinschaft bauten. Entsprechend misstrauisch wurde der Versuch von Willy Brandt in Washington betrachtet, einen im deutschen Interesse liegenden Ausgleich mit den osteuropäischen Nachbarn, der DDR und der Sowjetunion zu suchen. Wie sich herausgestellt hat, wurde die «Ostpolitik» zum Katalysator einer Entwicklung, die ab 1990 zur historisch einmaligen Dominanz der USA als einzige Supermacht geführt hat. Somit hat der einzige Versuch der Bundesrepublik, sich partiell von der Vormacht zu emanzipieren – Ironie der Geschichte – letztlich deren Interessen gedient.
Der überschaubare geopolitische Zustand während des kalten Krieges hat sich grundlegend geändert. Die seit dem Ende des Ost-West-Konflikts mit dem Wegfall der strategischen Balance dramatisch veränderten Rahmenbedingungen, der europäische Einigungsprozess, die fortschreitende wirtschaftliche und kommunikative Globalisierung und die sich herausbildenden neuen Kraftzentren beeinflussen die internationalen Beziehungen in einer neuen Qualität. US-Unternehmen haben sich darauf zum Teil besser eingestellt, weil ihnen die Politik die Wege ebnet, gegebenenfalls mit Brachialgewalt. Die deutsche und die europäische Politik und Wirtschaft verharren dagegen in einem Zustand des Reagierens und halten an einer überkommenen trans­atlantischen Interessenidentität fest, anstatt sich offensiv mit der Blaupause für die Nationale Sicherheitsstrategie der USA auseinanderzusetzen, deren Ursprünge auf die Wendezeit zurückgehen: «Rebuilding America’s Defenses»1, herausgegeben von Paul Wolfowitz.
Dieses Verhalten hat jedoch negative Auswirkungen auf die deutsche und europäische Wirtschaft. Sie lassen sich an konkreten Beispielen der vergangenen Jahre nachweisen.
Der Taktgeber

Im Managermagazin war im Jahr 2003 der folgende Kommentar zu lesen:
«Die USA geben den Takt vor. Militärisch, politisch, gesellschaftlich, wirtschaftlich, juristisch, kulturell, moralisch. Die normative Kraft des Faktischen, die Definitionshoheit der Macht, des fast unbegrenzten und offenbar kaum von Zweifeln angekränkelten Führungs- und Gerechtigkeitsanspruchs der Eliten der USA prägen auf zunehmend irritierende Weise das, was weltweit gedacht und gemacht wird, gedacht und gemacht werden muss, womit sich die Betroffenen – ob sie wollen oder nicht – oft teuer auseinandersetzen müssen. Man muss nicht ‹Schurkenstaat› sein, um dies zu erfahren. Und kostspielig kann es immer häufiger werden. So kostspielig, dass man von schweren wirtschaftlichen Schäden sprechen muss – direkt, unmittelbar, individuell.»2
Der konkrete Anlass: Über den «Iran and Libyan Sanctions Act»3 nötigte die US-Regierung Thyssen-Krupp zum Rückkauf von 16,9 Millionen eigener Aktien von der IFIC Holding AG Essen zum Preis von 24 Euro pro Aktie (Tageskurs 9 Euro). Damit wurde die Beteiligungsquote der IFIC, die im Anteilsbesitz Irans steht, an der ThyssenKrupp AG auf unter 5 Prozent gedrückt und
gleichzeitig die ohnehin negative Konzernbilanz weiter verschlechtert. Paragraph 71 Abs. 1 Nr. 1 Aktiengesetz kam zur Anwendung (Abwehr eines schweren, unmittelbar bevorstehenden Schadens) wegen von den USA angedrohten Restriktionen für den Marktzugang von Unternehmen des Konzerns in den USA. Es gibt weitere Beispiele.
Eine Reaktion der Bundesregierung wurde nicht bekannt. Der Kommentator, marxistischer oder antiamerikanischer Umtriebe unverdächtig, nimmt den Vorgang zum Anlass, Politik und Wirtschaft in Europa, «insbesondere aber die Krisen- und Planungsstäbe der europäischen Unternehmen selbst» aufzufordern, sich «strategisch und taktisch mit der ‹neuen Weltordnung› auseinanderzusetzen. Sonst werden sie nicht angemessen umgehen können mit den aus den aus dieser neuen Ordnung entstandenen neuen Unternehmensrisiken.» Ich stimme Johannes Reich, Head of Metzler Equities,4 zu, gehe allerdings einen Schritt weiter.


Zwei Herausforderungen

Die Welt ausserhalb der Vereinigten Staaten ist mit zwei Herausforderungen konfrontiert, die ihre Handlungsspielräume einrahmen:
• die militärische Suprematie der USA nach dem Kollaps der Sowjetunion,
• die mit Hilfe des Dollarsystems und der notfalls militärischen Kontrolle5 der Energieströme auf ein bestimmtes Segment der grössten Volkswirtschaft hin optimierte Weltwirtschaftsordnung.
Zwischen beiden besteht eine fruchtbare Wechselbeziehung. Sie sind die tragenden Säulen der neuen Weltordnung. Die oben erwähnte Studie «Rebuilding America’s Defenses» der republikanischen Denkfabrik «Project for the New American Century» (PNAC)6 fordert, dass die Vereinigten Staaten jeder denkbaren Staatenkoalition deutlich überlegen sein müssen. Ausdrücklich wird dies auf das Militärische in allen Dimensionen und die Wirtschaft bezogen. Die klein zu haltenden potentiellen Konkurrenten werden benannt. Unter ihnen befinden sich die EU und China. Die ursprünglich rein militärische Zielvorstellung einer «Full Spectrum Dominance» der USA ist heute auf alle Bereiche der internationalen Beziehungen und den Weltraum erweitert worden. Dazu der englische Schriftsteller Harold Pinter bei der Verleihung des Nobelpreises 2005:
«I have said earlier that the United States is now totally frank about putting its cards on the table. That is the case. Its official declared policy is now defined as ‹full spectrum dominance›. That is not my term, it is theirs. ‹Full spectrum dominance› means control of land, sea, air and space and all attendant resources.»7
[«Ich sagte vorhin, die Vereinigten Staaten würden ihre Karten jetzt völlig ungeniert auf den Tisch legen. Dem ist genau so. Ihre offiziell verlautbarte Politik definiert sich jetzt als ‹full spectrum dominance›. Der Begriff stammt nicht von mir, sondern von ihnen. ‹Full spectrum dominance› bedeutet die Kontrolle über Land, Meer, Luft und Weltraum sowie alle zugehörigen Ressourcen.»] (alle Übersetzungen Zeit-Fragen)
Das Dokument atmet die ahistorische Vorstellung, die USA könnten ihre hegemoniale Stellung nicht nur auf Dauer behaupten, sondern sie auch gegen andere Kraftzentren mit einer zum Teil dynamischen Entwicklung ausbauen. Dass die bestehende Völkerrechtsordnung auf diesem Weg ein zu beseitigendes Hindernis ist und multilaterale Ansätze in den internationalen Beziehungen zur Bewältigung von Problemen und Konflikten nur dann Mittel der Wahl sind, wenn sie der amerikanischen Interessenlage dienen, ist die logische Konsequenz.
Dies wird auch ganz offen ausgesprochen, wie die Themen einer Konferenz von Ende April 2000 für hochrangige osteuropäische Regierungsvertreter in der slowakischen Hauptstadt Bratislava zeigen. Sie wurde vom State Department und der «New Atlantic Initiative»8 ausgerichtet, die ein Projekt des republikanischen aussenpolitischen Instituts «American Enterprise Institute» ist. Als einziger deutscher Politiker war der CDU-Abgeordnete Willy Wimmer eingeladen. Er ist Mitglied des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestages und war von 1987 bis 1992 Staatssekretär im Bundesmini­sterium der Verteidigung. Das Ergebnis der Konferenz hat er in einem Brief an den damaligen Bundeskanzler zusammengefasst. Wimmers Bewertung des Vorgetragenen:
«Die amerikanische Seite scheint im globalen Kontext und zur Durchsetzung ihrer Ziele bewusst und gewollt die als Ergebnis von 2 Kriegen im letzten Jahrhundert entwickelte internationale Rechtsordnung aushebeln zu wollen. Macht soll Recht vorgehen. Wo internationales Recht im Wege steht, wird es beseitigt. Als eine ähnliche Entwicklung den Völkerbund traf, war der Zweite Weltkrieg nicht mehr fern. Ein Denken, das die eigenen Interessen so absolut sieht, kann nur totalitär genannt werden.»9
Demokraten und Republikaner: Methodenkritik bei gleicher Zielsetzung

Nun wäre es eine Illusion anzunehmen, die amerikanischen Vorstellungen über das Verhältnis des Restes der Welt zu den USA wären auf das neokonservative Spektrum der US-Eliten beschränkt. Das «Progressive Policy Institute», ein der demokratischen Partei nahestehendes aussenpolitisches Institut, hat im Oktober 2003 die «Democratic National Security Strategy»10 veröffentlicht. Ihre Kernaussage lässt sich so zusammenfassen:
Die Regierung Bush hat unsere Verbündeten vor den Kopf gestossen; dies war äusserst unklug, denn wir brauchen sie doch zur Durchsetzung unserer Interessen.
Das ist lediglich Methodenkritik bei gleicher Zielsetzung. Mit den kontinentaleuropäischen Vorstellungen von einem funktionierenden internationalen System hat dies ebensowenig zu tun wie die seit dem 11. September 2001 immer brutaler werdende hegemoniale Politik der jetzigen US-Regierung. «America first» ist der gemeinsame demokratisch-republikanische Nenner und damit die Konstante der US-Politik, auf die sich Europa und die anderen Machtzentren der Welt einzustellen haben.
Multilateralismus versus internationales Faustrecht

Vor allem aber: Unter diesen Bedingungen, die der Stärkere diktiert, erweisen sich die Beschwörungen einer transatlantischen Wertegemeinschaft als pure Illusion. America first ist das Kontrastprogramm zum Multilateralismus, der von Europa leider mehr in Sonntagsreden auftaucht denn proaktiv auf die internationale Agenda gesetzt wird. Multilateralismus ist ja keine akademische Veranstaltung, sondern entspringt als Konzept für das Zusammenleben auf unserem Planeten den leidvollen historischen Erfahrungen, die Europäer seit Jahrhunderten, aber ganz besonders im 20. Jahrhundert mit zwei Weltkriegen machen mussten. Den USA sind diese bisher erspart geblieben. Das kollektive Bewusstsein ihrer Bürger ist insofern im Zustand der Unschuld, was die anfängliche meist breite Zustimmung zu jedwedem Krieg erklären mag. Multilateralismus setzt deswegen auf gleichberechtigte Akteure, ein verläss­liches, funktionierendes Regelwerk, Interessenausgleich und die Herrschaft des Rechts.
Mit allen Mitteln

Ein Blick auf den US-Verteidigungshaushalt, wie er euphemistisch genannt wird, ist selbsterklärend. Er beläuft sich für das Fiskaljahr 2008 auf 500 Milliarden Dollar plus 200 Milliarden für die Kriege im Irak und in Afghanistan. (Zum Vergleich: Der deutsche Militärhaushalt beträgt 2008 29,3 Mia. Euro = 43,3 Mia. Dollar). Diese Höhe der amerikanischen Verteidigungsausgaben lässt sich mit keiner einzigen real bestehenden Bedrohung rechtfertigen. Er dient nur einem Ziel: Dem Austragen geoökonomischer Konkurrenz um knapper werdende Rohstoffe und umkämpfte Absatzmärkte mit militärischen Mitteln.
Dazu eine Zitate-Sammlung aus dem Wolfowitz-Papier:11
«At present the United States faces no global rival America’s grand strategy should aim to preserve and extend this advantageous position as far into the future as possible. There are, however, potentially powerful states dissatisfied with the current situation and eager to change it, if they can The US must discourage advanced industrial nations from challenging our leadership, or even aspiring to a larger regional or global role.»
[«Derzeit sehen sich die Vereinigten Staaten mit keinem globalen Rivalen konfrontiert. Amerikas grosse Strategie sollte darauf ausgerichtet sein, diese vorteilhafte Position für die Zukunft solange wie möglich zu erhalten und auszuweiten. Es gibt allerdings potentiell mächtige Staaten, die mit der gegenwärtigen Situation unzufrieden sind und sie gerne ändern möchten, wenn sie können. Die USA müssen moderne Industrienationen davon abhalten, unsere Führung in Frage zu stellen oder auch nur eine grössere regionale oder gar globale Rolle anstreben zu wollen.»]

Dass zur Durchsetzung dieser Ziele auch über Mittel nachgedacht wird, die menschenverachtend und rassistisch sind, zeigt die Überlegung am Schluss des Dokuments, wo ein Ausblick auf künftige Entwicklungen gegeben wird. Dabei darf nicht ausser acht gelassen werden, dass Wolfowitz ab 2001 stellvertretender Verteidigungsminister war und dass zu den Autoren des Papiers Robert Kagan (Carnegie Endowment for International Peace) und William Kristol (The Weekly Standard) gehören:
«And advanced forms of biological warfare that can target specific genotypes may transform biological warfare from the realm of terror to a politically useful tool.»
[«Und hochentwickelte Formen der bio­logischen Kriegsführung, die spezifische Genotypen anvisieren können, könnten die biologische Kriegsführung aus dem Be­reich des Terror zu einem politisch brauchbaren Werkzeug machen.»]

Ein solches Denken braucht historische Vergleiche mit der jüngsten Vergangenheit nicht zu scheuen. Am Beginn der Tat steht immer das Wort. George Orwell schrieb: Krieg ist Frieden. Der Durchschnittsbürger der «westlichen Wertegemeinschaft» erfährt in aller Regel nichts von diesen zynischen Handlungsanweisungen. In den deutschen Mainstream-Medien waren sie jedenfalls kein Thema.



Folglich erliegt er der Symbolwirkung der Freiheitsstatue, nicht wissend, dass deren Botschaft seit dem 11. September 2001 im Inneren der Vereinigten Staaten nur mehr eingeschränkt gilt und ausserhalb des US-Territoriums seit den Tagen eines Präsidenten John Quincy Adams12 keine Rolle mehr gespielt hat. In einer Gedenkrede zum 4. Juli 1821 sagte Adams, dass nur dann ein Krieg gerechtfertigt wäre, wenn die Rechte oder die Sicherheit der eigenen Nation direkt bedroht würden, und fuhr fort:
«Wherever the standard of freedom and Independence has been or shall be unfurled, there will be her heart, her benedictions and her prayers be. But she goes not abroad, in search of monsters to destroy. She is the well-wisher to the freedom and independence of all. She is the champion and vindicator only of her own. She well knows that by once enlisting under other banners than her own, were they even the banners of foreign independence, she would involve herself beyond the powers of extrication, in all the wars of interest and intrigue, of individual avarice, envy, and ambition, which assume the colors and usurp the standard of freedom.»13
[«Wo immer sich die Norm von Freiheit und Unabhängigkeit entfaltet hat oder ent­falten wird, werden ihr Herz, ihr Segen und ihre Gebete sein. Aber sie geht nicht ausser Landes um nach Scheusalen zu suchen, die sie zerstören könnte. Sie ist wohlwollender Freund der Freiheit und Unabhängigkeit aller. Sie ist Meister und Verfechter nur ihrer selbst. Sie weiss sehr wohl: Wenn sie sich einmal unter einer anderen als ihrer eigenen Fahne in Dienst nehmen lässt – und sei es das Banner der Unabhängigkeit anderer Staaten – würde sie sich jenseits der Macht der Befreiung in alle Kriege von Interessen, Intrigen, individueller Habgier, von Neid und Ehrgeiz verstricken, welche die Farbe der Freiheit annehmen und deren Standard usurpieren würden.»]

Die Welt könnte sich glücklich schätzen, gälte seine Handlungsmaxime auch für seine Nachfolger.



Statt dessen wird die Bedrohung der nationalen Sicherheit zur Tarnkappe, unter der sich die imperialen Interessen verbergen. Das Vorgehen gegen den Irak im Jahr 2003 bündelt Interessenlage, Methoden und Legitimations-Rhetorik wie in einem Brennglas.
Den 200 000 begeisterten Menschen rund um die Berliner Siegessäule beim Besuch des möglichen demokratischen Präsidenten Obama am 24. Juli 2008 waren die Grundkonstanten und Triebkräfte der geostrategisch ausgerichteten amerikanischen Aussenpolitik seit Beginn des 20. Jahrhunderts offenkundig nicht bewusst, die für Demokraten und Republikaner gleichermassen gelten. Amerika hat zwei Weltkriege geführt, um eurasische Macht zu werden, die auf diesem Kontinent den Ton angibt. Das Haupthindernis auf dem Weg zu den zentralasiatischen Märkten und Energiereserven ist mit dem Kollaps der Sowjetunion 1991 entfallen. Diese einmalige historische Chance wurde von der US-Politik seitdem auch mit einer ständig aggressiver werdenden Attitüde gegenüber den Bündnispartnern praktisch umgesetzt, während in Europa noch von der «Friedensdividende» geträumt wurde. Institutionell wird die Vorherrschaft über die Nato und die OSZE ausgeübt. Die – aus US-Sicht – drohende Gefahr, dass die EU mit ihrer Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) die Umklammerung lockern könnte, wurde mit dem «Berlin Plus»-Abkommen14 vorläufig gebannt.
Europas Mitverantwortung

Wenngleich es die USA geschickt verstehen, die unterschiedlichen Interessen und die historisch bedingten Vorbehalte der Europäer gegeneinander auszuspielen, bleibt doch festzuhalten: Für ein solches Spiel braucht es stets zwei. Balkan-Krieg, Nato-Ost-Erweiterung, das 1999er neue strategische Interventions-Konzept der Nato unter Abkoppelung von der Charta der Vereinten Nationen, das Abstreifen lästiger Vertragsbindungen, die völkerrechtswidrigen Überfälle im Irak und in Afghanistan15 wurden und werden von der EU mitgetragen, und vor allem: Sie steht damit in der Mitverantwortung. Dass diese Entwicklungen vom demokratischen Präsidenten Clinton in Gang gesetzt wurden, verweist auf eine überparteiliche Interessenlage.


Überparteiliche US-Interessenlage

Ein – zwangsläufig grober – Blick auf Rahmenbedingungen, Mechanismen und Instrumente der «neuen Weltordnung» sowie die Antwort auf die Frage «cui bono» verdeutlichen dies.
• Die Gestaltung der internationalen Beziehungen auf der Grundlage des Rechts des Stärkeren, nachdem das geostrategische Gegengewicht weggefallen ist. Die USA – einst treibende Kraft hinter der bestehenden Völkerrechtsordnung – betrachten die Vereinten Nationen heute als Hindernis.
• Die Vorherrschaft der monetären Denkschule und der Prinzipien des Washington Consensus16 in der Ökonomie. Beide entstanden nicht in einem gesellschaftlichen Vakuum. Sie sind tief im angloamerikanischen Gesellschaftsmodell verankert, das dem europäischen diametral entgegengesetzt ist. Gleichwohl werden sie dogmatisch nur nach aussen praktiziert, während die US-Finanz- und Wirtschaftspolitik durchaus pragmatisch ist.
• Dominanz in den relevanten internationalen Gremien Weltbank, IWF, G 7/8 und der WTO sowie der Nato unter dem Motto «America first».
• Erhaltung der historisch einmaligen Stellung des Dollars als Weltleitwährung: Zentralbanken benötigen ihn gegen Währungskrisen, Staaten zur Exportstützung und zum Import von Öl und Industriegütern, Schwellen- und Entwicklungsländer zum Bedienen der Schulden bei IWF und den sogenannten Clubs von Paris und London.17 Alle wichtigen Güter werden im Welthandel in US-Dollar fakturiert.
• Seit dem Ende des Goldstandards und der durch die schockartige Erhöhung des Ölpreises in den 1970er Jahren um mehrere hundert Prozent rasant gestiegenen Dollarnachfrage gibt es praktisch keinen Einfluss der Anleger mehr auf die US-Notenpresse.18
• Seit mehr als zwei Jahrzehnten betreiben die USA fast durchgängig eine bewuss­te defizitäre Handels- und Haushaltspolitik. Obwohl der Dollar inflationär ist, wird er nach wie vor als Zahlungsmittel und auf dem Weltkapitalmarkt akzeptiert. Die Hauptgründe: Furcht vor dem Kollaps, fehlender Mut zu Alternativen und die bisher erfolgreiche Botschaft, dass die Sicherheit vor den Bedrohungen der Welt nur von Amerika garantiert werden kann. Dort, wo dieser Glaube bröckelt, wird Instabilität erzeugt, die Abtrünnige auf den Pfad der Tugend zurückführt.19
• Das Dollarsystem zwingt zu exportorientierten Ökonomien, die den über WTO, IWF und Weltbank gesetzten Bedingungen nolens volens ausgesetzt sind. Darunter leiden besonders Schwellen- und Entwicklungsländer, die am Tropf des IWF hängen. Dessen Bedingungen sorgen dafür, dass die Gewinne aus dem Aussenhandel der binnenwirtschaftlichen Entwicklung zugunsten des Schuldendienstes entzogen werden. Exportorientierte hochproduktive Volkswirtschaften, wie die deutsche, geraten unter den Konkurrenzdruck der Globalisierung, deren Standards jenseits des Atlantiks gesetzt werden. Der Druck wird nach innen weitergegeben. Das Ergebnis ist an den Folgen der von Bundeskanzler Schröder durchgepeitschten sogenannten Agenda 2010 zu sehen.
• Amerika kann sich ein exorbitantes Leistungsbilanzdefizit von über 500 Mia. Dollar, ein Haushaltsdefizit in gleicher Höhe und eine Nettoverschuldung von 3,7 Billionen Dollar gegenüber der Welt leisten. Der Rest der Welt finanziert das Defizit, solange die Zentralbanken die Exportgewinne in vermeintlich sicheren US-Staatsanleihen anlegen. Die ASEAN+3-Staaten reinvestieren hier 80% ihrer Handelsüberschüsse und halten etwa 90% aller Dollarreserven. Chinas Devisenreserven von aktuell 1,8 Billionen Dollar bestehen überwiegend aus US-Staatspapieren.
Vereinfachend: Setzt man das Defizit in Bezug zum Militärbudget von 400 Mia. Dollar, finanzieren die Rivalen die amerikanische Fähigkeit zur Machtprojektion im Sinne des Wolfowitz-Papiers und legen noch ein Trinkgeld obendrauf. Der frühere deutsche Bundeskanzler und heutige Mitherausgeber der Wochenzeitung Die Zeit, Helmut Schmidt, fragt deswegen die Präsidentschaftskandidaten: «Wird Ihre Haushalts- und Finanzpolitik anstreben, die hochdefizitäre Aussenbilanz ins Gleichgewicht zu bringen? Wird Amerika aufhören, einen grossen Teil der Ersparnisse und der Kapitalbildung anderer Nationen zu verbrauchen? Treten Sie für eine vereinbarte Ordnung und Aufsicht über die hochspekulativen globalen ­Finanzmärkte ein?»20
• Die Hauptgewinner dieses Systems sind Big Oil und das dazugehörige Finanzkonglomerat sowie der militärisch-industrielle Komplex. Zu den Verlierern gehören nicht nur weite Teile der Welt, sondern auch grosse Bereiche der US-Industrie, die inzwischen auf dem Weltmarkt nicht mehr konkurrenzfähig sind. Die US-Wirtschaft ist weitgehend zu einer Import- und Konsumwirtschaft geworden, die kreditfinanziert ist. Der scheidende Präsident ­musste dies in seinem letzten Wahlkampf im Mittleren Westen von erbosten Industriearbeitern auf drastische Weise erfahren. Sogenannte Exportweltmeister sonnen sich – noch – in einem trügerischen Licht.


Bedingung von Wirtschaft

Jetzt und mittelfristig sind Erdöl und Erdgas als Bedingung von Wirtschaft – und damit von Entwicklung, Stärke und Einfluss – nicht zu ersetzen. Vor dem Hintergrund der erklärten «grand strategy» der USA ist es daher mehr als auffällig, dass ein entscheidendes Thema bisher überwiegend hinter verschlossenen Türen diskutiert wird, aber nicht Gegenstand einer (welt-)öffentlichen Debatte ist, wie das beispielsweise bei der Klimafrage der Fall ist: «Peak Oil».21 Volkswirte verweisen beruhigend auf die vorhandenen Reserven, wie sie von den grossen Ölgesellschaften angegeben werden. Dies ist mit hoher Wahrscheinlichkeit irreführend, weil es am Kern des Problems vorbeigeht und zum Teil auch die sogenannten Ressourcen mit einbezogen werden. Letztere sind jedoch lediglich vermutete Vorkommen.
Die entscheidende Frage, so namhafte Ölgeologen22, ist eine andere: Wann ist der Zeitpunkt erreicht, zu dem die weltweit höchste Förderkapazität ihren Höhepunkt erreicht hat und dann kontinuierlich und unwiderruflich sinkt? Der Hintergrund: Wenn 50% eines Ölfeldes ausgebeutet sind, steigen technischer und Energieaufwand für die Ausbeutung des Restes exponentiell an. Präzise Voraussagen, wann dieser Zeitpunkt erreicht sein wird, lassen sich naturgemäss nicht machen. Die Fachleute verorten ihn zwischen 2010 und 2020. Gleichzeitig steigt jedoch die weltweite Nachfrage aus den Schwellenländern. China ist nach den USA mit rund 20 Prozent der Weltfördermenge heute der zweitgrösste Ölimporteur.
Kontrolle der Weltwirtschaft

«The Cheney National Energy Report» vom April 200123 in Verbindung mit den Prognosen der Geologen und der «grand strategy» des PNAC-Dokumentes liefert stichhaltigere Erklärungen für die amerikanische Aussen-, Wirtschafts- und Finanzpolitik und die militärischen Interventionen der vergangenen Jahre als unsere transatlantischen White House-Astrologen in Politik und Medien. Dies gilt um so mehr, als die PNAC-Autoren keine Spin-Doktoren, sondern langjährige Amts- und Machtinhaber mehrerer Administrationen sind und führende Funktionen in der US-Ölindustrie innehatten. Eine Liste der Staaten und Regionen, die sich neben dem Irak – politisch oder militärisch – besonderer Aufmerksamkeit der USA erfreuen, gibt weiteren Aufschluss: Venezuela, Mexiko, Kolumbien, Sudan, die westafrikanische Küste (Sao Tomé, Principe), Algerien und Marokko, Libyen mit den aufschlussreichen Entwicklungen der letzten Jahre, Georgien und das Kaukasusgebiet, die ehemaligen islamischen Sowjetrepubliken, Iran, Pakistan, Indien (mit dem jüngsten Nuklear-Deal und einem inzwischen gescheiterten24 Abkommen über strategische Partnerschaft), Indonesien, Afghanistan, Japan, Korea. Die Dislozierung amerikanischer Streitkräfte in der Welt 25und die Bemühungen um Bereitstellung26 von Militärstützpunkten in ölstrategisch wichtigen Regionen bis hin zur Besetzung eines Landes haben eine klare Botschaft: Wir wollen die Kontrolle über die wirtschaftliche Entwicklung unserer Rivalen sicherstellen, indem wir bestimmen, wer wieviel Öl zu welchem Preis erhält.
«While many regions of the world offer great oil opportunities, the Middle East with two thirds of the world’s oil and the lowest cost, is still where the prize ultimately lies. Let’s look at it simply. The most important difference between North Korea and Iraq is that economically, we just had no choice in Iraq. The country swims on a sea of oil.»27
[«Während viele Regionen der Welt grossartige Gelegenheiten für Öl zu bieten haben, ist es der Nahe Osten, mit zwei Dritteln der Weltölreserven und den geringsten Förderkosten, wo letztlich der Hauptgewinn liegt. Betrachten wir es simpel: Der wichtigste Unterschied zwischen Nord-Korea und dem Irak liegt darin, dass wir wirtschaftlich gesehen im Irak gar keine Wahl hatten. Das Land schwimmt auf einem Meer von Öl.»]

Deutlicher geht es nicht mehr. Den aufmerksamen Zuhörern der «Autumn Lunch Speech» des Chief Executive Officer von Halliburton und heutigen Vizepräsidenten Dick Cheney war schon 1999 klar, wohin die Reise gehen würde.28 Cheney warf die Frage auf, woher die jenseits von 2010 weltweit benötigten zusätzlichen 50 Millionen Barrel täglich kommen sollten, wenn Regierungen und nationale (!) Ölgesellschaften 90% der Ölfelder kontrollierten. Zur Grössenordnung: Der prognostizierte Zusatzbedarf machte 1999 fast zwei Drittel der Weltfördermenge aus. Cheney sah also die nationale Verfügungsgewalt als eines der Hauptprobleme an. Deswegen begann die Ausarbeitung militärischer Optionen für einen Regimewechsel im Irak bereits acht Monate vor dem 11. September 2001.29
Va banque

Die Vereinigten Staaten haben weder die Vereinten Nationen noch ihre engsten Verbündeten jemals auf derart brutale Weise vor vollendete Tatsachen gestellt und die eigene Bevölkerung sowie die Weltöffentlichkeit zu täuschen versucht, wie das im Vorfeld des Irak-Krieges geschah. Sie haben riskiert, ausgerechnet die Region zu destabilisieren, die in ihren strategischen Überlegungen die erste Priorität einnimmt und für das Funktionieren der Weltwirtschaft eine erstrangige Bedeutung hat. Sie haben ihre Reputation als «soft power», die für Frieden, Freiheit und Stabilität steht, aufs Spiel gesetzt und stehen heute als Lügner da. Die Frage ist angebracht, unter welchen Umständen rational gesteuerte Politiker ein solches Risiko eingehen und va banque spielen. Da die Handelnden weder Hasardeure noch psychisch Gestörte sind, liegt die Erklärung nahe: Die US-Regierung plant und agiert auf der Grundlage der Peak-Prognosen, um deren dramatischen Konsequenzen für Amerikas Vormachtstellung vorzubeugen. Gestützt wird diese Einschätzung durch das von Paul Bremer mit dem Dekret 39 vom September 2003 verordnete Wirtschaftsprogramm. Es beliess die irakische Öl- und Gaswirtschaft unter amerikanischer Kontrolle (dies hat sich inzwischen geändert). Ins Bild passt auch dieser, von der Weltöffentlichkeit kaum zur Kenntnis genommene, gleichwohl aussagekräftige Vorgang: Im August 2003 verzichtete Japan unter amerikanischem Druck auf einen unterschriftsreifen Vertrag mit Iran zur Entwicklung eines bedeutenden Ölfeldes.
Terrorismus – die Tarnkappe des imperialen Anspruchs

Die neue Weltordnung des «America first» stützt sich auf militärische Suprematie, das Dollarsystem, die Kontrolle der Energieströme,30 Dominanz in den einschlägigen Institutionen der Weltwirtschaft und das Recht des Stärkeren. «Der» internationale Terrorismus dient nach dem Wegfall jeglicher ernst zu nehmenden militärischen Bedrohung zur Rechtfertigung eines gigantischen Militärapparates vor der eigenen Bevölkerung.31 Gleichzeitig hält der neue Feind die Truppe der Industrie- und Schwellenländer bei der Stange und lässt die Gläubiger weiterhin Papiergeld akzeptieren, das realwirtschaftlich nicht mehr gedeckt ist.
In einer Weltordnung, von der ein Akteur mit Hilfe der von ihm dominierten Instrumente überproportional profitiert, müssen sich die übrigen Akteure Fragen stellen, die alternativ in zwei Hauptrichtungen beantwortet werden können.


Anpassung – Unterordnung – reagieren oder gegensteuern – neujustieren – agieren?

Bejaht man die erste Fragestellung, dominieren die Risiken: zunehmende Abhängigkeit bis zum Vasallentum, Verlust eigener Handlungsspielräume und eigener Politikansätze, Rechtsunsicherheit, weitere Kriege und Destabilisierung, eigener Blutzoll, Verschwendung geistiger und materieller Ressourcen, Entstehung von aggressiver Gegenmacht, europäischer Zerfallsprozess, Dauergefahr eines Kollapses des demokratischen Systems. Die Hoffnung, auch künftig zu den Gewinnern zu zählen, dürfte sich dagegen nur für wenige erfüllen. Für Europa und die seit 1945 US-orientierten asiatischen Staaten wäre es ein schwerer Fehler, die positiven wirtschaftlichen System-Erfahrungen der Zeit zwischen 1945 und der Wende 1990 auf die Zukunft zu übertragen. Sie waren dem kalten Krieg geschuldet.
«Europa muss Verbündete finden, um die Vereinigten Staaten zur Einsicht zu bringen»

Der sanfte Hegemon32 des Josef Joffe existiert nämlich nicht mehr. Er kann es sich aus seinem Anspruch heraus nicht leisten, den kleiner werdenden Kuchen wie bislang zu teilen, weil ihm das Wasser bis zum Hals steht. Die Konkurrenz ist zu gross geworden.
Den zweiten Weg einzuschlagen, beinhaltet ebenfalls Risiken. Die Chancen überwiegen jedoch, weil er als Alternative nur das «zivile» Kontrastprogramm sein kann und einen Prozess mit grösserem Gestaltungsspielraum in Gang setzt. Als Initiator, Träger und Katalysator dieser Alternative käme primär nur Europa in Frage, weil es wirtschaftlich stark genug ist, sein Einigungsprozess vergleichsweise weit fortgeschritten ist und seine Kultur des Interessenausgleichs, der Rechtsstaatlichkeit und der diplomatischen Konfliktregelung – bislang noch – weltweit Anerkennung findet. Zur Realisierung ist es allein jedoch nicht stark genug. Die USA werden ohne Not nicht bereit sein, sich auf einen mulilateralen Ansatz einzulassen, solange sie vom Ist-Zustand den Rahm abschöpfen können, ihre ­Position der Stärke weit überschätzen und ihnen die Unkosten zum grossen Teil vom Rest der Welt erstattet werden. Andererseits können die anstehenden Probleme nicht ohne Amerika gelöst werden. Folglich muss Europa Verbündete finden, um die Vereinigten Staaten zur Einsicht zu bringen. Für eine Gegenstrategie fehlen nicht primär die Instrumente, sondern der nüchterne Blick auf die jeweilige Interessenlage, Mut, die Fähigkeit zwischen Fakten und Bluff zu unterscheiden, und der Wille zu agieren anstatt zu reagieren.
Anstatt die eigene Interessenlage nüchtern zu analysieren, wird jedoch in Europa, besonders in Deutschland, in einer Mischung aus Dankbarkeit, Pietät und Respekt an eine längst nicht mehr existierende transatlantische Interessenidentität geglaubt. Die Realität sieht jedoch so aus:
Mitte Januar 2004 schob Alan Greenspan in seiner Berliner Rede den Europäern ungerührt den Schwarzen Peter für die Dollarschwäche zu und empfahl als Mittel gegen einen US-Finanzkollaps die Umwandlung der nationalen Rentenkassen in private Fonds, die ihre Gelder dann in den USA anlegen würden.
Befreiung oder Selbstzerstörung der ökonomischen Basis

In Davos versammeln sich alljährlich hochrangige Vertreter aus Politik und Wirtschaft. 2004 durfte Vizepräsident Cheney seine Zuhörer mit dem 8%-Boom der US-Wirtschaft im dritten Quartal 2003 beeindrucken, der über die Steuergeschenke von Mitte 2003 von einem Grossteil der versammelten ausländischen Anleger bezahlt worden war. Widerspruch war nicht zu vernehmen, weder in Berlin noch in Davos. So kann der Teufelskreis aus Abhängigkeit – Exportzwang – Dollaranlage – US-Defizit – noch mehr Export – nicht durchbrochen werden.
Wer weiterhin auf die US-Konjunktur als Motor für die Weltwirtschaft setzt, wird letztlich seine ökonomische Basis zerstören. Immer wenn sich der jeweilige Fed-Chef zum Zinsniveau räuspert, bekommen die Börsen weltweit Schluckauf. Wie lange wollen sich Unternehmen und ganze Volkswirtschaften diese Abhängigkeit zu Lasten der Masse der Bürger noch bieten lassen? Weltweit gibt es keinen zweiten Schuldner, der seinen Gläubigern die Bedingungen diktieren kann.
«Project for the New American Century»

Das war vor acht Jahren bewusst visionär und aggressiv im Sinne von Exklusion formuliert. Die Vision hat aber binnen kurzem reale Konturen angenommen, weil sie in ­Politik umgesetzt wurde: im Irak, in Afghanistan, gegenüber Russland, bei der erfolgreichen Spaltung der EU, in Iran, in Pakistan. Wenn europäische Banken und Unternehmen im vorauseilenden Gehorsam Geschäftsbeziehungen mit Iran abbrechen33, weil sie den Zorn der selbsternannten Götter im Washingtoner Olymp fürchten und damit die eigenen Volkswirtschaften schädigen, muss gehandelt werden. Wenn Europa und andere die ihnen zugedachte Opfer- und Vasallenrolle nicht annehmen wollen, müssen sie ihre Vision formulieren und politisch umsetzen. Und nicht nur insgeheim grummeln.


Eckpfeiler eines europäischen Gegenprojekts

Wie könnten die Eckpfeiler eines «Projekts für das Europäische 21. Jahrhundert» aussehen, das ausserhalb der USA konsensfähig ist, weil es keine hegemonialen Ambitionen hat? Ein Projekt, das darauf abzielt, die wirtschaftliche Entwicklung wieder mit Priorität nach innen zu richten anstatt den Weltmarkt weiterhin als Arena für ökonomische Killertruppen34 zu nutzen? Den Vorschlägen liegt das seriös nicht zu widerlegende sicherheitspolitische Analyseergebnis zugrunde, dass Europa auf absehbare Zeit militärisch nicht bedroht und somit auf amerikanische Sicherheitsgarantien nicht (mehr) angewiesen ist:
• Stärkung regionaler Wirtschaftskreisläufe in Asien und Lateinamerika und Afrika,
• Ermutigung zu und Hilfestellung bei Schaffung einer asiatischen, lateinamerikanischen und afrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft nach europäischem Vorbild,
• Unterstützung der ASEAN+3-Gruppe35 bei den hierzu bereits angelaufenen rudimentären Ansätzen,
• Unterstützung der Mercosur-Gruppe im lateinamerikanischen Einigungsprozess,
• strategischer Ausbau der wirtschaftlichen Kooperation zwischen EU, Asien, Russ­land, Lateinamerika und Afrika,
• Änderung der Maastricht-Kriterien36 mit dem Ziel, die europäische Infrastruktur auszubauen und über Osteuropa hinaus neue Marktarterien zu schaffen,
• Änderung der monetären Philosophie und Funktion der EZB als Diener der vom Dollar beherrschten Finanzplätze New York und London,
• Bruch mit der Ideologie, die Volkswirtschaften auf Handelsüberschüsse auszurichten, die ein vor dem Kollaps stehendes Dollarsystem37 füttern und nach innen die Kohäsion der Gesellschaften sprengen,
• Bruch mit der Ideologie des freien Welthandels, der die Starken gegen die Schwachen ausspielt38,
• Initiative der EU-Regierungen für ein neues «Bretton Woods» zur Reorganisation des Weltfinanzsystems, das auf ökonomische Entwicklung ausgerichtet ist,
• Etablierung des Euro als Alternative zum Dollar und Ermutigung asiatischer Zentralbanken zur Diversifizierung ihrer Währungsreserven,
• Kappung der Bindungen in der jetzigen Form zu IWF und Weltbank,
• Stärkung der – bislang auf Druck Wa­shingtons verhinderten – Rolle der Asian Development Bank39 für die Finanzierung regionaler Wirtschaftsstrukturen,
• Sprengung des Petrodollar-Kartells durch Aufbau privilegierter Beziehungen zu Öllieferstaaten einschliesslich Russlands,
• Änderung parasitärer Strukturen der europäischen Politik wie im Agrarsektor und den Verhandlungspositionen in der Doha-Runde40 der WTO,
• Verlegung des Schwerpunktes der Finanzpolitik hin zu Investitionen,
• Koordinierung der europäischen Aussen-/Sicherheits- und Verteidigungspolitik ausschliesslich im Rahmen der EU,
• Verzicht der EU auf den Status und die Fähigkeiten einer globalen Militärmacht,
• strikt defensive Ausrichtung der Streitkräfte sowie Ausbau der Fähigkeiten zur Stabilisierung von Krisengebieten bei Vorliegen eindeutiger Mandate von Uno oder OSZE,
• Initiative der EU zur Einrichtung einer UN Standing Peacekeeping Force41,
• Organisation einer «Konferenz für Sicherheit, Zusammenarbeit und Entwicklung für den Nahen/Mittleren Osten» analog zur KSZE42 der 1970er Jahre, unter Einbeziehung aller Akteure,
• Krisenprävention durch Primat von Diplomatie und Wirtschaft in den Aussenbeziehungen auf der Basis von Interessenausgleich und Gegenseitigkeit,
• strikte Bindung an das Recht43,
• Initiative der EU zur Stärkung und Reform der Uno,
• Initiative zur Bekämpfung des Terrorismus ausschliesslich mit allen zivilen Mitteln der Strafverfolgung im Rahmen der Vereinten Nationen.44
Rolle Chinas

Die USA sind auf den Erhalt der gegenwärtigen Weltwirtschaftsordnung angewiesen. Nur sie garantiert die ökonomischen Ressourcen zum Unterhalt des gigantischen US-Militärapparats, der für ihre Rolle als Supermacht, neben dem Dollar, unverzichtbar ist. Noch ist China ein willkommener, weil unverzichtbarer Abnehmer amerikanischer Staatspapiere. Auf diese Rolle wird es sich aber auf Dauer nicht reduzieren lassen. Die Energiefrage im Kontext einer China in den letzten Jahren wesentlich näher gerückten US-Militärpräsenz birgt reichlichen Sprengstoff. Für viele Dollar-Anleger stellt sich zudem die Frage: Wie lange sollen sich die Gläubiger noch vom Schuldner nötigen lassen, Handelsüberschüsse gegen inflationäres Papiergeld einzutauschen und damit ein gegebenenfalls gegen sie gerichtetes Drohpotential zu finanzieren?
Wenn Europa den Versuch nicht wagt, an den Stellschrauben der Weltpolitik zum Vorteil aller Akteure zu drehen, wird es an der Seite der Imperialmacht auch künftig mitziehen müssen in die Globalisierungskriege der Zukunft – unter der Flagge «War on Terrorism». Von Israel bis Nordirland, von Afghanistan45 bis Indonesien und den Philippinen ist hingegen klar geworden, dass militärische Mittel als Repressionsinstrument ungeeignet sind. Das liegt in der Natur der Asymmetrie. Alle bisherigen Erfolge bei der Festnahme führender Köpfe von Terrorgruppen sind das Ergebnis einer geduldigen, zähen Arbeit von Polizei und Geheimdiensten im multinationalen Verbund. Wer hier auf militärische Mittel setzt, erntet den neuen «Hundertjährigen Krieg»,46 von dem der ehemalige CIA-Direktor James Woolsey spricht, um die Vasallen aus der westlichen Wertegemeinschaft in die Disziplin zu zwingen.
Sprengstoff für das Dollar-System

Statt weiterhin den altersschwachen Motor der Weltwirtschaft mit den eigenen Überschüssen zu subventionieren, sollte die hochproduktive europäische Wirtschaft selbst zum Motor werden. Die US-Drohung, die Exporte über den Dollar in die Zange zu nehmen, wird als Bluff entlarvt, wenn die asiatischen Zentralbanken geordnet in den Euro wechseln. Denn ohne deren Anlagen ist das amerikanische Defizit nicht mehr zu finanzieren. China hat den Diversifizierungsprozess bereits eingeleitet, weil der relative Wert seiner Dollar-Rücklagen stetig zurückgeht. In der ASEAN+3-Gruppe wird intensiv über die Ausgabe von Staatsanleihen in regionalen Währungen nachgedacht. Das ist Sprengstoff für das Dollar-System. Eine solche Entwicklung bedarf daher der konzeptionellen und institutionellen Steuerung. Wird sie sich selbst überlassen, droht tatsächlich das Chaos, das Greenspan et al. bisher virtuos als Disziplinierungsinstrument einsetzen.
Eine faire Weltwirtschaftsordnung ist möglich

Europa ist stark genug, um über eine wirtschaftlich-strategische Verbindung mit Asien und Russland die Verantwortung für eine gerechtere und fairere Weltwirtschaftsordnung zu übernehmen. Dabei muss es klug genug sein, die Fehler des Dollar-Imperiums der letzten Jahrzehnte nicht zu wiederholen. Der Dynamik eines solchen Prozesses könnten sich die USA nicht entziehen. Letztlich käme er auch ihrer eigenen Wirtschaft zugute.
Die Atlantiker auf beiden Seiten warnen bei diesem Thema stets vor amerikanischem Isolationismus. Auch das ist Bluff, weil die geostrategischen Gründe für die USA dies nicht zulassen. Isolationismus wäre das Ende der Weltmachtrolle Amerikas, weil die mit hohem Aufwand gesicherte und ihm im Prinzip freundlich gesinnte Gegenküste Europa unverzichtbar ist. Die US-Eliten wissen das. Zu Hasenfüssigkeit gibt es folglich auch hier keinen Grund. Wer sich allerdings ins Boxhorn jagen lässt, hat beim Pokern schlechte Karten.
Ausblick

Europa kann sich wegen seines Gesamtgewichts einer globalen Rolle nicht entziehen. Ausserhalb des «Westens» und in der Chef­etage der Uno wird sie von uns auch erwartet. Aber natürlich nicht als Kopie oder Wurmfortsatz des jetzigen Hegemons. Eine in diesem Sinn europäisch geprägte Weltordnung muss vielmehr so gestaltet werden, dass «sich Europa und die USA darin auch dann noch wohl fühlen, wenn ihre Stellung nicht mehr so überragend sein wird wie heute».47
Ersetzt man im auf die internationale Ordnung gemünzten Zitat Europa und die USA durch England und Frankreich, wird ein wesentliches Erfolgsgeheimnis der EU deutlich. Helmut Kohl und seine Vorgänger wussten dies noch, seine Nachfolger ohne Kriegserfahrung reklamieren hingegen für Deutschland eine Normalität, die sich angesichts seiner Geschichte im 20. Jahrhundert verbieten sollte. Sie senden damit auch falsche Signale in den Apparat der Exekutive aus, in dem das mittlere Politikmanagement bereits der Generation angehört, die schon den kalten Krieg nicht mehr reflektierend erlebt hat.48
Nur der aktive Einsatz für die Veränderung der weltwirtschaftlichen und weltpolitischen Rahmenbedingungen schafft wirkliche neue Spielräume. Jeder Euro, den Europa für das Zusammenflicken von Staaten ausgibt, die von amerikanischen Präzisionswaffen zerlegt worden sind, kann nicht investiert werden. Jeder Renminbi, der zur Stützung des Dollars ausgegeben wird, ist der binnenwirtschaftlichen Entwicklung Chinas entzogen.
Die politischen Ansätze der EU für ein Umsteuern sind über einen Embryonalzustand bisher nicht hinausgelangt, obwohl es deutliche Signale, z. B. aus China, gibt.49 Daran haben die jährlichen «Asia-Europe-Meetings» und die Besuche der deutschen Bundeskanzler in Peking nichts geändert.
Angesichts der Prognosen führender Ölgeologen und des äusserst fragilen Weltfinanzsystems drängt jedoch die Zeit. Die jüngsten Ereignisse im Kaukasus kündigen darüber hinaus einen Paradigmenwechsel an: Russland ist zurück auf der Weltbühne. Die USA erleben ihren ersten realen «Blowback», den Chalmers Johnson bereits vor acht Jahren konstatiert hat: «Die USA sehen sich gerne als den Sieger des kalten Krieges. Aller Voraussicht nach werden die, die in einem Jahrhundert zurückblicken, keinen Sieger erkennen können; vor allem dann nicht, wenn die Vereinigten Staaten weiter an ihrem derzeitigen imperialen Kurs festhalten.»50
Wie angeschlagene Boxer reagieren können, ist bekannt. Dass auch Staaten alles auf eine Karte setzen, wenn sie glauben, mit dem Rücken zur Wand zu stehen, hat die Geschichte gezeigt. Der ehemalige singapuri­sche Diplomat Kishore Mahbubani hat in seinem 2008 erschienenen Buch «The New Asian Hemisphere. The Irresistible Shift of Global Power to the East» die Götterdämmerung für den Westen angedeutet. Zur Rezeption des kurzen Krieges in Georgien durch die westlichen Medien schrieb er am 20. August 2008:
«It is therefore critical for the west to learn the right lessons from Georgia. It needs to think strategically about the limited options it has. After the collapse of the Soviet Union, western thinkers assumed the west would never need to make geopolitical compromises. It could dictate terms. Now it must recognise reality. The combined western population in North America, the European Union and Australasia is 700 m, about 10 per cent of the world’s population. The remaining 90 per cent have gone from being objects of world history to subjects. ‹The Financial Times› headline of August 18, 2008 proclaimed: ‹West in united front over Georgia›. It should have read: ‹Rest of the world faults west on Georgia›.»
[«Es ist für den Westen daher entscheidend, aus Georgien die richtigen Lehren zu ziehen. Er muss die begrenzten Optionen, die er hat, strategisch überdenken. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nahmen westliche Denker an, der Westen würde nie geopolitische Kompromisse machen müssen. Er könne die Bedingungen diktieren. Jetzt muss er die Realität anerkennen. Die westliche Bevölkerung von Nord-Amerika, der Europäischen Union und Australasien (Australien, Neuseeland und Ozeanien) zusammengenommen zählt 700 Millionen, das sind 10 Prozent der Weltbevölkerung. Die verbleibenden 90 Prozent sind von Objekten der Weltgeschichte zu Subjekten geworden. Die Schlagzeile der ‹Financial Times› vom 18. August verkündete ‹Einheitsfront des Westens bezüglich Georgiens›. Das hätte heissen sollen: ‹Der Rest der Welt sieht den Fehler bezüglich Georgiens beim Westen.› »]

Dass diese Einsichten bei dem aussenpolitischen Chefberater des demokratischen Präsidentschaftskandidaten, Zbigniew Brzezinski, noch nicht angekommen sind, zeigen seine Kommentare zu der Kaukasus-Krise.51
Seine Hybris, wie sie hier zum Ausdruck kommt:
«Currently, Europe – despite its economic strength, significant economic and financial integration, and the enduring authenticity of the transatlantic friendship – is a de facto military protectorate of the United States. This situation necessarily generates tensions and resentments, especially since the direct threat to Europe that made such dependence somewhat palatable has obviously waned. Nonetheless, it is not only a fact that the alliance between America and Europe is unequal, but it is also true that the existing asymmetry in power between the two is likely to widen even further in America›s favor.»52
[«Gegenwärtig ist Europa – trotz seiner ökonomischen Stärke, einer bedeutenden wirtschaftlichen und finanziellen Intergration und der langanhaltenden transatlantischen Freundschaft – ein De-facto-Militärprotektorat der Vereinigten Staaten. Diese Situation erzeugt notwendigerweise Spannungen und Ressentiments, vor allem seit die direkte Bedrohung Europas, die eine solche Abhängigkeit ein wenig geniessbarer machte, offensichtlich geschwunden ist. Nichtsdestotrotz ist es nicht nur eine Tatsache, dass die Allianz zwischen Amerika und Europa ungleich ist, es ist ebenso wahr, dass sich die bestehende Asymmetrie der Macht zwischen den beiden aller Wahrscheinlichkeit nach weiter zugunsten Amerikas vergrössern wird.»]
Sowie die fatale Strategie, die der Spaltung Europas mit der Einbeziehung Polens und der Tschechischen Republik in die «National Missile Defense»53 (NMD) zugrunde liegt, erfordern von Europa eine angemessene Antwort. Und dies auch zum Besten Amerikas. •

*Jochen Scholz ist nach 38 Jahren als Berufsoffizier der Luftwaffe nun aussenpolitischer Berater. Die letzten sechs Dienstjahre im Bundesministerium der Verteidigung wurde er im Stab des Generalinspekteurs eingesetzt. Davor zwölf Jahre in Nato-Gremien, sechs Jahre in Nato-Stäben. Der Text ist die überarbeitete Fassung eines Papiers an den Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) und mehrere deutsche Grossunternehmen.

1 The Project for the New American Century (PNAC): «Rebuilding America’s Defenses», September 2000, von Paul Wolfowitz (Hrsg.), www.newamericancentury.org/RebuildingAmericasDefenses.pdf
2 Johannes J. Reich (Bankhaus Metzler) im Managermagazin vom 27.05.03, in: «Die neue Weltordnung», www.manager-magazin.de/geld/artikel/0,2828,249860,00.html
3 http://thomas.loc.gov/cgi-bin/query/z?c104:H.R.3107.ENR, Vgl. auch hier: http://italy.usembassy.gov/pdf/other/RS20871.pdf und http://www.fas.org/irp/congress/1996_cr/h960618b.htm
4 www.metzler.com/metzler/generator/metzler/en/Equities/Einstieg_20_28Content_29.html
5 Vgl. William F. Engdahl: Wird Asien den Dollar aufgeben?, www.engdahl.oilgeopolitics.net/print/ASEAN%20&%20Dollar-System.htm
6 www.newamericancentury.org/
7 http://en.wikipedia.org/wiki/Full-spectrum_dominance
8 www.aei.org/research/projectID.11/project.asp
9 Vgl. Faksimile Seite 7 und 8, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 9/2000, www.natotribunal.de/blaetter_wimmer.pdf
10 Progressive Internationalism: A Democratic National Security Strategy, www.ppionline.org/ppi_ci.cfm?contentid=252144&subsecid=900020&knlgAreaID=450004
11 Vgl. Anmerkung 1
12 US-Präsident von 1825 bis 1829, Mitbegründer der «Monroe-Doktrin»
13 Vgl. Studien von Zeit-Fragen, Jahrbuch 2001, www.jahrbuch2001.studien-von-zeitfragen.net/Weltmacht/Atlantizismus_/atlantizismus_.html
14 Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Berlin_Plus und www.europa-reden.de/info/esvp.htm
15 Vgl. Texte der VN-Sicherheisrats-Resolutionen 1368 und 1373 vom September 2001: www.uni-kassel.de/fb5/frieden/themen/Terrorismus/un-res-1368-1373-1377.html
16 Freihandel, Liberalisierung, Deregulierung, Subventionsabbau, Privatisierung, Zahlungsfähigkeit für Schuldendienst. Vgl. dazu: www.cid.harvard.edu/cidtrade/issues/washington.html
17 http://de.wikipedia.org/wiki/Pariser_Club, http://de.wikipedia.org/wiki/Londoner_Club
18 Vgl. William F. Engdahl: Mit der Ölwaffe zur Weltmacht, Kopp-Verlag Rottenburg am Neckar, 2007 und www.engdahl.oilgeopolitics.net/Auf_Deutsch/Olwaffe/olwaffe.html
19 Vgl. Jürgen Elsässer: Wie der Dschihad nach Europa kam. Gotteskrieger und Geheimdienste auf dem Balkan, Niederösterreichisches Pressehaus, St. Pölten 2005
20 Zitiert aus Die Zeit, Nummer 6/2008, www.zeit.de/2008/06/01-USA
21 Vgl. ASPO Deutschland http://energiekrise.de/
22 Vgl. www.peakoil.net/ «Submission to the Cabinet Office on Energy Policy» by The Oil Depletion Analysis Centre, September 9, 2001, www.cabinet-office.gov.uk, Simmons, Matthew, address to Association for the Study of Peak Oil, May 27, 2003, French Petroleum Institute (IFP) www.fromthewilderness.com, Campbell, Colin, «Forecasting Global Oil Supply 2000–2050», M. King Hubbert Centre for Petroleum Supply Studies, Colorado School of Mines, July 2002, Vgl. auch: Princeton University Geology Department, Universität Uppsala, Douglas-Westwood Ltd., Petroconsultants Schweiz
23 Erstellt auf der Grundlage «Strategic Energy Policy: Challenge for the 21st Century», James Baker Institute for Public Policy and Council on Foreign Relations, Houston, April 2001. www.rice.edu
24 Vgl. http://info.kopp-verlag.de/news/indien-loest-sich-aus-der-militaerischen-partnerschaft-mit-den-usa.htm
25 Vgl. Foreign Policy in Focus www.fpif.org/fpifinfo/5125
26 Zum Beispiel: African Command, www.africom.mil/
27 Zitiert nach Studien von Zeit-Fragen, Jahrbuch 2004, www.jahrbuch2004.studien-von-zeitfragen.net/Zeitfragen/Cheney_on_Oil/cheney_on_oil.html#Prize , Vgl. auch: «Wolfowitz: The Iraq War was about Oil», «The Guardian», 4. Juni 2003 in einem Bericht über eine Sicherheitskonferenz in Singapur, www.commondreams.org/headlines03/0604-10.htm
28 Vgl. London Institute of Petroleum, 1999, www.petroleum.co.uk
29 Vgl. Paul O’Neill, erster Finanzminister unter George W. Bush in Mid-East Realities, 10. Januar 2004, www.MiddleEast.org
30 «The overriding motivation for this political ­smokescreen [Krieg gegen den Terrorismus] is that the US and UK are beginning to run out of secure hydrocarbon energy supplies … As demand is increasing, so supply is decreasing, continually since the 1960s.», Michael Meacher, britischer Umweltminister von 1997–2003, «This War on Terrorism is Bogus» in: «The Guardian», 6. September 2003
31 «Moreover, as America becomes an increasingly multi-cultural society, it may find it more difficult to fashion consensus on foreign policy issues, except in the circumstance of a truly and widely perceived direct external threat.», Zbigniew Brzezinski in «The Grand Chessboard» (1997), Seite 211
32 www.internationalepolitik.de/archiv/jahrgang1996/mai1996/die-weltmacht-und-der----sanfte-hegemon---.html
33 Deutsche Bank gibt Iran-Geschäft auf, www.spiegel.de/wirtschaft/0,1518,497032,00.html
34 Vgl. «Confessions of an Economic Hitman», www.lewrockwell.com/wanniski/wanniski53.html
35 http://de.wikipedia.org/wiki/ASEAN_Plus_Three
36 http://de.wikipedia.org/wiki/EU-Konvergenzkriterien
37 Vgl. Anmerkung 5
38 Vgl. Karl Polanyi, The great Transformation, 1944, deutsch bei Suhrkamp 1978, Taschenbuch Wissenschaft 260, www.grundrisse.net/buchbesprechungen/karl_polanyi.htm, und John Gray, Die falsche Verheissung, Alexander Fest Verlag, Berlin 1999, Buchkritik: www.inkultura-online.de/gray.htm
39 www.adb.org/
40 http://de.wikipedia.org/wiki/Doha-Runde
41 Vgl. http://en.wikipedia.org/wiki/Peacekeeping
42 http://de.wikipedia.org/wiki/KSZE
43 Zum Beispiel verzichtet die Europäische Sicherheitsstrategie auf eine eindeutige Festlegung, militärisch ausschliesslich auf der Grundlage der Charta der Vereinten Nationen zu handeln, vgl. www.consilium.europa.eu/uedocs/cmsUpload/031208ESSIIDE.pdf
44 Vgl. die Studie der RAND Corporation vom Juli 2008 «How Terrorist Groups end», www.rand.org/pubs/research_briefs/RB9351/index1.html
45 Die Zahl der Anschläge und Gefechte gegen die ISAF-Truppen hat sich von 2005 bis 2008 von monatlich 20 auf wöchentlich 250 erhöht (Stand Mitte August 2008, eigenes Archiv)
46 Vgl. www.uni-kassel.de/fb5/frieden/themen/Globalisierung/druessel.html
47 Der frühere deutsche Aussenminister Hans-Dietrich Genscher: «Politikberatung durch Immanuel Kant» in «Der Tagesspiegel» vom 10. Februar 2004
48 Vgl. die skandalösen Äusserungen eines Diplomaten des Auswärtigen Amtes anläss­lich der Präsentation eines Seminarergebnisses an der Bundesakademie für Sicherheitspolitik zum Thema «Energiesicherheit 2050» im Juni 2008, http://209.85.135.104/search?q=cache:bzC3UbQM_lkJ:www.baks.bundeswehr.de/portal/PA_1_0_P3/PortalFiles/02DB040000000001/W27GDKGN204INFODE/Rede%2Bdes%2BSeminarsprechers%2B_2_.pdf%3Fyw_repository%3Dyouatweb+eugen+wollfarth+rede+abschlu%C3%9F+seminars+2008&hl=de&ct=clnk&cd=1 , sowie «Bär und Drache», www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/57316
49 Vgl. «China’s EU Policy Paper» vom 13. Oktober 2003, Chinesisches Aussenministerium
50 Chalmers Johnson, Blowback: The Costs and Consequences of American Empire (Holt/Owl), siehe auch: www.thenation.com/doc/20011015/johnson
51 www.welt.de/politik/article2296378/Russlands-Vorgehen-aehnelt-dem-von-Hitler.html
52 Zitiert aus Studien von Zeit-Fragen, Jahrbuch 2001, www.jahrbuch2001.studien-von-zeitfragen.net/Weltmacht/Atlantizismus_/atlantizismus_.html
53 Vgl. auch: Keir A. Liebr, Darley G. Press, «The End of MAD», http://belfercenter.ksg.harvard.edu/files/is3004_pp007-044_lieberpress.pdf, und «The Rise of U.S. Nuclear Primacy» in Foreign Affairs, April/Mai 2006, S. 42 – 54, www.foreignaffairs.org/20060301faessay85204/keir-a-lieber-daryl-g-press/the-rise-of-u-s-nuclear-primacy.html?mode=print
Vor dem Ende des Weltfinanzsystems

Yu Yongding, früherer Berater von Chinas Zentralbank, hat folgende Erklärung abgegeben: «Wenn die USA es zulassen, dass Fanny und Freddy zusammenbrechen und die internationalen Investoren werden nicht entschädigt, werden die Konsequenzen furchtbar sein. Wenn es auch nicht das Ende der Welt bedeutet, so bedeutete es aber das Ende des gegenwärtigen Finanzsystems.» China hält 376 Milliarden Dollar US-Schulden mit langer Laufzeit, das meiste davon in Fanny-und-Freddy-Guthaben.

Quelle: The Privateer, Nr. 611,
(Übersetzung Zeit-Fragen)
Die letzte Option der USA

Die letzte «Option», die die Bush-Regierung noch hat, um die globale Initiative zurückzugewinnen, ist die, einen Angriff im grossen Stil auf Iran zu lancieren. Zwar wäre solch ein Schachzug ein strategischer Wahnsinn von wahrhaft historischen Dimensionen. Das wird aber die augenblickliche Bush-Administration kaum davon abhalten. Ganz sicher ist aber, dass ein solcher Angriff das letzte noch verbleibende internationale Ansehen der USA ebenso zerstören würde wie die letzten Stützen des US-Finanzsystems und des US-Dollars. Das würde eine globale Depression von furchterregendem Ausmass und furchterregender Tiefe verursachen. Die «Flucht nach vorn» würde das, was von der US-Wirtschaft noch übrig ist, zerstören. Und genau so würde auch ein Rückzug der USA wirken.
Die USA wandern auf einem Grat, den Abgrund des wirtschaftlichen Zusammenbruchs auf der einen Seite und den der strategischen Niederlage auf der anderen.

Quelle: The Privateer, Nr. 611,
(Übersetzung Zeit-Fragen)
Der Krieg und die Folgen
Ein Blick nach Italien

bha. Italien beklagt mehr als 2500 Soldaten, die nach Einsätzen in Kosovo, in Libanon, im Irak, Somalia, Afghanistan erkrankt sind. Die Erkrankungen sind meist aggressive Tumoren und andere Krebserkrankungen. Die Anwendung von radioaktiven Uranwaffen durch die Kriegsallianz ist dafür verantwortlich, obgleich dies bis heute von dieser strikt negiert wird.
Mehr als 170 junge Soldaten aus Italien sind bereits verstorben.
Am 7. Juli 2008 verstarb auch Tonio Currao im Militärkrankenhaus Celio in Rom. Er hatte an einem aggressiven Knochentumor gelitten. Er gehörte einer Fallschirmspringereinheit an, die 2007 in Libanon eingesetzt war. Die ihn betreuenden Aerzte äusserten sich sehr verwundert über die Aggressivität des Tumors von Tonio Currao. In der Vergangenheit hätten sie noch nichts dergleichen gesehen.
Kurz vor seinem Tod wollte Tonio noch einmal den Himmel sehen. Sein Vater begleitete ihn ins Freie. Tonio schaute den Himmel an und hatte ein Lächeln auf dem Gesicht. Zurück im Krankenhaus schloss er die Augen und starb.

Quelle: vittimeuranio.com, 29.7.2008

Dienstag, 9. September 2008

Wie das jüdische Volk erfunden wurde

Wie das jüdische Volk erfunden wurde - Erkenntnisse, die nicht in eine lineare Wahrnehmung der Vergangenheit passen - Von Schlomo Sand, 06.09.2008 14:17

Für einen Israeli besteht kein Zweifel daran, daß das jüdische Volk existiert, seit es auf dem Sinai von Gott die Thora [1] empfing und daß er selbst dessen direkter Nachkomme ist. Er glaubt auch, daß sich dieses Volk, aus Ägypten kommend, im »gelobten Land« niederließ, wo das ruhmvolle Königreich Davids und Salomos entstand, das sich später in die Reiche Judäa und Israel teilte. Und er weiß, daß es zweimal vertrieben wurde - im sechsten vorchristlichen Jahrhundert nach der Zerstörung des Ersten Tempels und im Jahr 70 n. Chr., nach der Zerstörung des Zweiten Tempels.

Darauf folgten knapp zweitausend Jahre des Umherirrens. So verschlug es das jüdische Volk in den Jemen, nach Marokko, nach Spanien, nach Deutschland, Polen und bis weit nach Russland hinein. Doch es gelang ihm stets, die Blutbande zwischen seinen versprengten Gemeinden zu bewahren. Deshalb blieb seine Einzigartigkeit erhalten. Ende des 19. Jahrhunderts reiften die Bedingungen für seine Rückkehr in die uralte Heimat heran. Ohne den Völkermord der Nazis hätten Millionen Juden nach und nach und in aller Selbstverständlichkeit Eretz Israel (das Heilige Land: die geographische Region Israel) wieder besiedelt, denn davon träumten sie seit zwanzig Jahrhunderten. Unberührt lag Palästina da und wartete auf sein ursprüngliches Volk, auf daß es das Land wieder zum Erblühen brächte. Denn es gehörte ihm, nicht dieser geschichtslosen Minderheit, die der Zufall dorthin verschlagen hatte. Gerecht waren also die Kriege, die das verstreute Volk führte, um sein Land wieder in Besitz zu nehmen; und kriminell war der gewalttätige Widerstand der ansässigen Bevölkerung. Diese Deutung der jüdischen Geschichte ist das Werk versierter Vergangenheitskonstrukteure, deren blühende Phantasie seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus Versatzstücken der jüdisch-christlichen Religionsgeschichte eine ununterbrochene Stammesgeschichte für das jüdische Volk erfand. Die reichhaltige Geschichtsschreibung des Judentums kennt zwar auch andere Sichtweisen. Diese kamen jedoch über akademische Kontroversen nicht hinaus und tangierten auch nicht die Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelte essentialistische Geschichtsauffassung. Erkenntnisse, die nicht ins Bild einer linearen Vergangenheit passten, verhallten weitgehend ungehört. Mit zusammengebissenem Kiefer duldete der nationale Imperativ keinen Widerspruch. Zu dieser eigenartigen Halbseitenlähmung beigetragen haben auch die Fachbereiche für die »Geschichte des jüdischen Volkes«, die an israelischen Universitäten unabhängig von den Fachbereichen für »Allgemeine Geschichte« arbeiten. Auch die im Kern juristische Debatte über die Frage »Wer ist jüdisch?« hat diese Historiker nicht weiter beschäftigt: Jüdisch ist für sie jeder Nachfahre des Volkes, das vor zweitausend Jahren ins Exil gezwungen wurde. An der Ende der 1980er Jahre von den »neuen Historikern« ausgelösten Kontroverse beteiligten sich die »autorisierten« Vergangenheitsforscher nicht. Zu Wort meldeten sich vor allem Wissenschaftler aus anderen Fachrichtungen: Soziologen, Orientalisten, Linguisten, Geographen, Politologen, Literaturwissenschaftler und Archäologen stellten neue Überlegungen zur jüdischen und zionistischen Vergangenheit an. Akademiker aus dem Ausland schlossen sich ihnen an. Die »Fachbereiche für jüdische Geschichte« hingegen reagierten nur zaghaft und konservativ, verbrämt mit dem apologetischen Geschwafel aus alten Vorurteilen.

In den letzten 60 Jahren hat sich die israelische Nationalgeschichtsschreibung also kaum weiterentwickelt, und daran wird sich auf absehbare Zeit wohl auch nichts ändern. Die von der Forschung zutage geförderten Fakten stellen indessen jedem ernsthaften Historiker Fragen, die auf den ersten Blick verblüffend erscheinen mögen und doch sehr grundsätzlicher Natur sind. Kann man die Bibel als Geschichtsbuch lesen? Die ersten jüdischen Historiker der Neuzeit wie Isaak Markus Jost (1793-1860) und Leopold Zunz (1794-1886) hätten diese Frage mit Nein beantwortet. In ihren Augen war das Alte Testament ein theologisches Werk. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts fanden sich Historiker (insbesondere Heinrich Graetz, 1817-1891), die eine »nationale« Lesart der Bibel entwickelten: Abrahams Aufbruch nach Kanaan, den Auszug aus Ägypten, das vereinigte Königreich Davids und Salomos stellten sie als Berichte über eine wahre nationale Vergangenheit dar. Die zionistischen Historiker beten seither diese »biblischen Wahrheiten« nach, die zum täglichen Brot im israelischen Bildungs- und Schulwesen gehören. In den 80er Jahren erschütterte dann ein Erdbeben die Gründungsmythen: Nach neueren archäologischen Erkenntnissen kann im 13. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung gar kein großer Exodus stattgefunden haben. Auch konnte Moses die Hebräer nicht aus Ägypten heraus- und ins »gelobte Land« führen - einfach deshalb, weil sich dieses damals in den Händen der Ägypter befand. Darüber hinaus findet sich nirgends ein Hinweis auf einen Sklavenaufstand im Reich der Pharaonen, noch auf eine rasche Eroberung des Landes Kanaan durch irgendwelche Eindringlinge. Vom prachtvollen Königreich Davids und Salomos gibt es keine Überreste. Die Entdeckungen des vergangenen Jahrzehnts zeigen, daß damals zwei kleine Reiche existierten: das mächtigere Israel im Norden und der Zwergstaat Judäa im Süden. Dessen Bewohner, die Judäer, wurden jedoch nicht im sechsten vorchristlichen Jahrhundert vertrieben: Nur die geistigen und politischen Eliten mussten sich in Babylon niederlassen, wo sie die persischen Kulte kennenlernten - und aus dieser folgenreichen Begegnung entwickelte sich der jüdische Monotheismus. Aber wie steht es mit der Vertreibung des Jahres 70 unserer Zeitrechnung - hat sie tatsächlich stattgefunden? Erstaunlicherweise hat sich die Forschung mit diesem wichtigen identitätsstiftenden Ereignis noch nie beschäftigt, und zwar aus einem ganz einfachen Grund: Die Römer haben an der gesamten Ostküste des Mittelmeers nie ein Volk ins Exil geschickt. Mit Ausnahme der versklavten Gefangenen lebten die Judäer auch nach der Zerstörung des Zweiten Tempels auf ihrem Land.

Eine Minderheit unter den Judäern konvertierte im 4. Jahrhundert zum Christentum. Und nach der arabischen Eroberung im 7. Jahrhundert schloss sich die Mehrheit dem Islam an. Das war den meisten zionistischen Denkern durchaus bekannt: Noch 1929, im Jahr des großen Palästinenseraufstands, schreiben darüber Jitzchak Ben Zwi, der 1952 nach Ezer Weizmans Tod Israels zweiter Präsident wurde, und Staatsgründer David Ben Gurion. Beide erwähnen mehrfach, daß die in Palästina ansässigen Bauern die Nachfahren der Bewohner des antiken Judäa seien 2. Woher kommen also die zahlreichen seit der Antike rund um das Mittelmeer ansässigen Juden, wenn es keine Deportation aus dem römisch besetzten Palästina gab? Hinter dem Vorhang der nationalen Geschichtsschreibung verbirgt sich eine erstaunliche historische Realität: Vom Makkabäeraufstand im 2. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung bis zum Bar-Kochba-Aufstand von 132 bis 135 n. Chr. war das Judentum die erste Bekehrungsreligion. Schon die Hasmonäer hatten die südlich von Judäa ansässigen Idumäer und die dem »Volk Israel« einverleibten Ituräer zwangsbekehrt. Von diesem jüdisch-hellenistischen Reich breitete sich das Judentum über den gesamten Vorderen Orient und die Mittelmeerküste aus. Im 1. nachchristlichen Jahrhundert entstand im Gebiet des heutigen Kurdistans das jüdische Königreich Adiabene - es blieb nicht das letzte Reich, das sich, neben Judäa, »judaisierte«. Nicht nur die Schriften von Flavius Josephus legen Zeugnis vom Proselyteneifer der Juden ab. Zahlreiche lateinische Schriftsteller, von Horaz bis Seneca, von Juvenal bis Tacitus, äußern eine Furcht vor jüdischer Bekehrung. Mischna und Talmud 3 erlauben den Übertritt - obwohl die Talmudgelehrten angesichts wachsenden Drucks durch das Christentum Vorbehalte äußern. Mit der konstantinischen Wende zu Beginn des 4. Jahrhunderts, die dazu führte, daß das Christentum im Jahr 380 Staatsreligion wurde, ist die Ausbreitung des Judentums zwar nicht zu Ende, doch wird der jüdische Bekehrungseifer damit an die Ränder des christlichen Kulturraums zurückgedrängt. So entsteht im 5. Jahrhundert im Gebiet des heutigen Jemens das starke jüdische Königreich Himjar, dessen Nachkommen auch nach dem Sieg des Islams bis in die Neuzeit hinein an ihrem Glauben festhielten.

Arabische Chronisten berichten uns auch von Berberstämmen, die im 7. Jahrhundert zum Judentum übertraten: Dem Vormarsch der Araber nach Nordafrika versuchte die legendäre jüdische Berberkönigin Dihya al-Kahina entgegenzutreten. Judaisierte Berber beteiligten sich an der Eroberung der iberischen Halbinsel. Es war der Beginn der jüdisch-muslimischen Symbiose, die sich in Spaniens maurischer Kulturgeschichte widerspiegelt.
Die bedeutsamste Massenbekehrung ereignete sich im 8. Jahrhundert in der Region zwischen dem Schwarzen und dem Kaspischen Meer: Die Chasaren traten geschlossen zur jüdischen Religion über. Die Ausbreitung des Judentums vom Kaukasus bis zur heutigen Ukraine ließ zahlreiche Gemeinden entstehen, die erst die Mongolen im 13. Jahrhundert nach Osteuropa abdrängten. Dort bildeten sie gemeinsam mit den aus den südslawischen Regionen und dem heutigen Deutschland zugewanderten Juden das Fundament der großen jiddischen Kultur. Bis in die 60er Jahre hinein tauchen diese Fakten noch in der zionistischen Geschichtsschreibung auf. Später werden sie zunehmend an den Rand gedrängt und verschwinden schließlich ganz aus dem öffentlichen Bewusstsein Israels: Im Jahr 1967 konnten die Eroberer der Stadt Davids natürlich nichts anderes sein als direkte Nachfahren seines mythischen Königreichs und nicht etwa, Gott bewahre, die Abkömmlinge von Berberkriegern oder chasarischen Reitern. Seitdem gelten die Juden als ein spezifisches ethnos, das nach zweitausend Jahren Exil und Wanderschaft endlich in seine Hauptstadt Jerusalem zurückgekehrt ist. Die Verfechter dieser linearen Erzählung mobilisieren nicht nur den Geschichtsunterricht, sondern holen auch die Biologie ins Boot. Seit den 70er Jahren setzen »wissenschaftliche« Forschungen alles daran, die genetische Verwandtschaft der Juden aus aller Welt zu beweisen. Die »Herkunft der Völker« ist inzwischen ein akzeptiertes und beliebtes Forschungsfeld der Molekularbiologie, und bei der eifrigen Suche nach dem gemeinsamen Ursprung des »erwählten Volks« leistet sich das Y-Chromosom einen Ehrenplatz an der Seite einer jüdischen Klio 4.

Das eigentliche Problem ist, daß diese Geschichtsauffassung die Grundlage der Identitätspolitik des Staates Israel bildet: Aus dieser ethnozentristischen Definition des Judentums erfolgt die strikte Abgrenzung von Nichtjuden - von Arabern ebenso wie von russischen Zuwanderern und Arbeitsmigranten. Sechzig Jahre nach seiner Gründung weigert sich Israel, eine Republik für alle seine Bürger zu sein. Da knapp ein Viertel der Staatsbürger als Nichtjuden gelten, ist dieser Staat dem Geist seiner Gesetze nach nicht der ihre. Umgekehrt tritt Israel stets als der Staat der Juden in aller Welt auf, auch wenn diese keine verfolgten Flüchtlinge mehr sind, sondern mit allen Rechten ausgestattete Staatsbürger der Länder, in denen sie leben. Es ist kein leichtes Unterfangen, eine neue jüdische Geschichte zu schreiben, denn die Juden sind keine durch einen gemeinsamen Ursprung vereinte, in zweitausendjähriger Wanderschaft über die Welt verstreute Ethnie, sondern haben schon immer, meist durch Konversion, in verschiedenen Gegenden der Welt Religionsgemeinschaften gebildet. Für die Entwicklung der Geschichtsschreibung sowie überhaupt für den Prozess der Modernisierung spielt bekanntlich die Erfindung des Nationalstaats eine herausragende Rolle. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts zerplatzten die mit dem Nationalstaat verbundenen Träume. Immer mehr Wissenschaftler analysieren, sezieren, dekonstruieren die großen nationalen Erzählungen und vor allem den von den Chronisten hochgehaltenen gemeinsamen Ursprungsmythos - auf daß an die Stelle der Identitätsalbträume von gestern neue Träume treten können.

(1) Die Thora - die hebräische Wurzel jara bedeutet ›lehren‹ - ist der Gründungstext des Judentums
(2) Vgl. David Ben Gurion und Jitzchak Ben Zwi, »Eretz Jisroel in Vergangenheit und Gegenwart«, New York 1918, und Jitzchak Ben Zwi, »Unsere Bevölkerung im Land« (auf Hebräisch), Warschau, Exekutivkomitee der Jugendunion und Jüdischer Nationalfonds, 1929
(3) Die Mischna, die als das erste Werk der rabbinischen Literatur gilt, wurde im 2. Jh. nach Chr. abgeschlossen. Der aus Mischna und Gemara (›Kommentar‹) bestehende Talmud versammelt die rabbinischen Debatten über das Gesetz, die Bräuche und die Geschichte der Juden
(4) Klio ist in der griechischen Mythologie die Muse der Heldendichtung und der Geschichtsschreibung

Schlomo Sand ist Professor für Geschichte an der Universität Tel Aviv. Sein jüngstes Buch »Wann und wie wurde das jüdische Volk erfunden?« liegt auf Hebräisch vor (Tel Aviv, Resling, 2008) und erscheint im September auf Französisch (Paris, Fayard).

Erschienen in Le Monde diplomatique Nr. 8652 vom 8.8.2008, Seite 3, Dokumentation Schlomo Sand; aus dem Französischen von Barbara Schaden. Hervorhebungen durch politonline
http://www.monde-diplomatique.de/pm/2008/08/08/a0028.text.name,askmnfKAZ.n,0

Biometriezwang - das Mittel zur totalen Überwachung

Referendum gegen Biometriezwang auf Schweizer Pässen und Identitätskarten

zf. Kurz vor der Sommerpause wurde ein Bundesbeschluss angenommen, wonach in Zukunft nur noch Pässe und Identitätskarten mit biometrischen Daten (digitales Gesichtsbild und Fingerabdrücke) erhältlich sein sollen. Ein breit gefächertes überparteiliches Komitee hat das Referendum gegen einen Bundesbeschluss ergriffen, Die Mass­nahme geht weit über das hinaus, was eigentlich von der EU im Rahmen des Schengen-Abkommens von der Schweiz gefordert wird. Ein breit gefächertes Referendumskomitee hat das Referendum dagegen ergriffen und sammelt Unterschriften, um eine Volksabstimmung über diesen in vielerlei Hinsicht fragwürdigen Schritt zu erwirken.

Nach dem Willen von Bundesrat und Parlament sollen ab 1.3.2010 sämtliche neuen Schweizer Pässe und Identitätskarten (ID) zwingend mit einem RFID-Chip bestückt werden und biometrische Daten über Fingerabdruck und Gesicht enthalten. Zudem werden diese Daten in einer neuen zentralen Datenbank beim Bund gespeichert. Auch ausländischen Behörden und sogar privaten Gesellschaften (z. B. Transportunternehmen) soll Zugriff auf diese persönlichen Daten der Schweizer Bürger gewährt werden. Der Bundesrat begründet die Notwendigkeit eines neuen «Passes 2010» mit dem Schengen-Abkommen. Doch dort ist keine Rede davon, dass die Daten in einer zentralen Datenbank gespeichert werden müssten. Es ist dort auch keine Rede davon, dass nebst dem Pass zusätzlich biometrische Identitätskarten erstellt werden müssten. Die Schweizer Regelung geht somit weit über die von der EU und den USA geforderten Massnahmen hinaus.
Verlust der persönlichen Wahlfreiheit

Auf besonders grosses Unverständnis in der Bevölkerung stösst der Wegfall der Wahlfreiheit. Mit dem vorliegenden Bundesbeschluss wird nämlich allen Schweizer Bürgern die Freiheit genommen, in Zukunft zwischen einem biometrischen und einem nicht-biometrischen Pass bzw. Identitätskarte wählen zu können. Wenn diese Wahlmöglichkeit wegfällt, ist dies eine massive Einschränkung der persönlichen Freiheitsrechte für alle Bürger. Ein Bürger, der nicht bereit ist, sich vom Staat biometrische Daten abnehmen und in einer zentralen Datenbank speichern zu lassen, wird in Zukunft nicht einmal mehr die Möglichkeit haben, eine Identitätskarte zu besitzen als Beweismittel des Schweizer Bürgerrechts im Inland. In Deutschland musste die Regierung erst vor einem Monat nach heftigen Protesten genau die gleichen Pläne eines umfassenden Biometriezwangs wieder begraben. Die Folge: Deutsche werden auch künftig die Wahl haben, ob sie ihre Fingerabdrücke auf der neuen ID erfasst haben möchten oder nicht.

* Mit RFID kann jeder Schritt aller Menschen überallhin verfolgt werden.
* Pässe und Identitätskarten mit einem RFID-Chip können von unautorisierten Personen sehr einfach «gehackt» werden.
* Bei RFID und Speicherung der persönlichen Daten in einer zentralen Datenbank ist der Datenschutz nicht gewährleistet.
* Durch die zunehmende Verchipung von Konsumgütern und jetzt auch Ausweispapieren wird einer weiteren Ausbreitung des Überwachungsstaats Tür und Tor geöffnet.

Widerstand auf breiter Front

Auch gegen den Bundesbeschluss in der Schweiz regt sich jetzt Widerstand auf einer breiten politischen Front von ganz links bis ganz rechts. Der Schweizer Parlamentsbeschluss unterliegt noch dem Referendum. Bis zum 2. Oktober 2008 müssen 50 000 Unterschriften gesammelt werden, um eine Volksabstimmung in dieser wegweisenden Frage zu ermöglichen. Das überparteiliche Komitee gegen biometrische Pässe und Identitätskarten hat am 18. Juli 2008 offiziell die Unterschriftensammlung gestartet.

Ausführliche Informationen zum Sachverhalt sowie Videos zum Thema sind auf der Internetseite des Komitees unter www.freiheitskampagne.ch zu finden. Für weitere Informationen stehen wir Ihnen gerne zur Verfügung.

Kontakt:
Komitee gegen biometrische
Schweizer Pässe und Identitätskarten
Postfach 268, 9501 Wil SG
info@freiheitskampagne.ch
Das Referendum wird unterstützt von:

Margrit Kiener Nellen, Nationlarätin SP; Bern; Junge SVP Kanton Luzern; Josef Zysiadis, Nationalrat «A Gauche toute/POP» Waadt; Grüne Partei der Schweiz; Dr. Dominique Baettig, Nationalrat SVP, Jura; POP& Gauche en Movement; Lukas Reimann, Nationalrat SVP, St. Gallen; Junge Grüne Schweiz; Christian Waber, Nationalrat EDU, Bern; Daniel Vischer, Nationlarat Grüne, Zürich; Geistige Landesverteidigung; Geri Müller, Nationalrat Grüne, Aarau; Alternative Liste Schaffhausen; Fredy Gerber, Nationalrat SVP, Basel-Land; Patriot.ch; Pirmin Müller, Präsident Junge SVP Luzern; Grüne Aargau; Carlo Sommaruga, Nationalrat SP, Genf; Alternative Liste Winterthur; Dr. Rudolf Jucker, Grossrat FDP, Basel-Stadt; Jeunesse socialiste vaudoise; Samuel Ramseyer, Kantonsrat SVP, Zürich; Grüne Winterthur; Dr. Luc Recordon, Ständerat Grüne, Waadt; Solidarité sans frontière, Zusammenschluss von AKS und BODS; Bernhard Zahner, Präsident JSVP Schweiz; Schweizer Demokraten; Michael Kreuzer, Präsdient JSVP Oberwallis; CCCZH; Aargauische Vaterländische Vereinigung; JULIA junge linke alternative; Stefanie Looser-Freis, Vizepartei- und Fraktionspräsidentin SP Langenthal, Bern und Stadträtin Langenthal; Grüne Aargau; Demokratische Juristinnen und Juristen Zürich; Anian Liebrand, Vize-Präsident JSVP Luzern; les communistes; Grüne Partei Bern Demokratische Alternative; JUSO Luzern; EDU/UDF; Demokratisches Nidwalden; Muttenzerkurve; AGB Antigenozidbewegung; Roland Schöni, Zentralsekretär SD, Bern; Grüne Partei Davos; JungsozialistInnen Aargau; Katholische Volkspartei Schweiz; grundrechte.ch; Humans Hope; Stefan Keller a. Grossrat Grüne, Aargau und Einwohnerrat Baden; Kinder ohne Rechte; Alternative Liste Zürich; Dharma Ethik Partei; junge gruene bern; Christoph Landolt, Präsident Jungfreisinnige, St. Gallen

Sonntag, 7. September 2008

Deutschland und die Schweiz

von Karl Müller

Ein Deutscher, der sich seinem Land verbunden fühlt, ist herausgefordert, wenn die Rede ist von «deutscher Rücksichtslosigkeit» und «deutscher Arroganz», vom «Herrschaftsmensch» und «Stiefeltritt» und wenn ein Schweizer in bezug auf die Deutschen mit den Worten zitiert wird: «Mit denen als Herren im Land? Nein, so weit darf es nicht kommen! Es ist ja jetzt schon nicht auszuhalten!» (vgl. Zeit-Fragen Nr. 33 vom 11.8.2008)
Was ist aus Deutschland geworden, dass ein Diplomat und Wissenschaftler aus Asien findet: «Deutschland hat all seine moralische Glaubwürdigkeit verloren.»?
Gescheiterte Versuche der Deutschen, ihre Freiheit zu erlangen

In der zweiten Hälfte des 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatten sich viele Deutsche nicht mehr mit den Verhältnissen in Deutschland abfinden wollen. Sie waren stolze Deutsche, und deshalb wollten sie keine Untertanen absoluter Herrscher sein, sondern freie Menschen in einer deutschen Verfassungsnation mit gleichen Rechten für alle und ohne Privilegien.
Aber die Deutschen haben es damals leider nicht geschafft, sich zu befreien. Statt dessen hat man die Deutschen gebeugt und in die falsche Richtung gehoben: 1871 mit einem deutschen Reich auf Kosten der Opfer dreier Kriege und auf Kosten der politischen Freiheit; dann mit Gross- und Weltmachtträumen, bis der Erste Weltkrieg alle Phantasien zerstörte; nach dieser Katastrophe mit Revanche­gedanken für eine bittere Niederlage, auf die das menschenverachtende NS-Regime aufgepfropft werden konnte; und nach dem absoluten Zusammenbruch 1945 und nach zuerst schweren Demütigungen mit einer Sonder- und Besserstellung für Westdeutschland: gegenüber den Menschen im Osten, auch im Osten Deutschlands; als führende Wirtschaftsmacht in Europa; als engster Verbündeter der Siegermacht USA auf dem europäischen Kontinent.
USA nach 1990 für ein grosses Deutschland

Die USA waren es auch, die sich für das grosse Deutschland nach 1990 besonders stark machten – nicht aus Liebe zu den Deutschen, sondern im Interesse des Strebens nach der alleinigen Weltmacht – mit dem grossen Deutschland als treuestem Vasall. Condoleezza Rice hat ein dickes Buch über die Rolle der USA bei der «Wiedervereinigung» geschrieben. Brzezinski hat offen erklärt, welche Vasallenrolle Deutschland zu spielen habe.
Gibt es eine deutsche Mentalität? Nein, die Deutschen sind so verschieden wie die Menschen in jedem anderen Land, der Zusammenhalt ist eher schwächer als in anderen Ländern. Das hat etwas mit der vertrackten deutschen Geschichte zu tun – auch mit der Grösse des Landes.
Ablenkungsversuche von der tiefen Gespaltenheit des Landes

So gibt es die Versuche, künstliches «deutsches Selbstbewusstsein» zu schaffen, zum Beispiel über den Sport. Aber in der Regel sind das von oben gesteuerte Ablenkungsversuche – von der tiefen Gespaltenheit des Landes: in Ost und West, in arm und reich usw.
Aber anstatt in Deutschland selbst das Haus in Ordnung zu bringen, sollen die Deutschen erneut mit gefährlichen Parolen in die Irre geführt werden, und das vor allem seit 1990: Wir sind wieder wer in der Welt, nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch und militärisch …
Angela Merkel kümmert sich nicht um Deutschland

Die Kanzlerin Angela Merkel kümmert sich nicht um Deutschland, sie gibt sich als grosse Aussenpolitikerin, Mittlerin in den Konflikten der Welt, Fürsprecherin der Menschenrechte. Die Medien gaben ihr die Aura der grossen Diplomatin. Jeder soll denken: Unsere Regierung tut gute Dinge in der Welt, sie hat Verantwortung in der Welt übernommen.
Deutschland Schritt für Schritt zur Globalisierungs- und Kriegsmacht gemacht

Tatsache aber ist, dass die deutschen Regierungen seit 1990 aus Deutschland Schritt für Schritt eine Kriegsmacht gemacht haben, Deutschland ist der drittgrösste Rüstungsexporteur der Welt, die deutsche Politik hat aus der Europäischen Union ein Globalisierungsprojekt gemacht. Im Zentrum stehen Freihandel und Kapitalverkehrsfreiheit: auf Kosten der sozialen Gerechtigkeit und der Werte menschlichen Miteinanders. Die Profite deutscher Grossunternehmen sind enorm gestiegen – aber die Löhne sind gesunken. Deutschland ist Exportweltmeister, und die Exporteure träumen vom Immer-weiter-so und Immer-noch-mehr.
Deutscher Hochglanz-Schein

Deutsche Eisenbahner sprechen davon, dass sich viele deutsche Schienenstrecken und Bahnanlagen in einem schlimmen Zustand befinden. Aber die Deutsche Bahn AG hat hochfliegende Pläne: Weltkonzern an der Börse will sie werden. Der Lötschbergtunnel, so entnimmt man der Hochglanz-Webseite der Bahn AG, sei ein ganz wesentlicher Teil «des wichtigsten europäischen Güterkorridors Rotterdam-Köln-Basel-Mailand-Genua». Dieser Transportkorridor soll «Europa näher zusammenbringen und die europäische Wirtschaft stärken».
«Soft power» gegen die Schweiz?

Ein Land, dessen Bevölkerung da nicht mitmacht, ist für die deutsche Regierung und die Kreise, für die diese Regierung Politik macht, ein Dorn im Auge. «Soft power» anzuwenden heisst, nicht nur Kriege mit Bomben und Raketen zu führen, um Völker und Länder unter das Joch der Profitwirtschaft zu zwingen, sondern auch Länder und Völker von innen her zu zersetzen und gefügig zu machen: mit Kapital, um Unternehmen des Landes dirigieren zu können; mit öffentlichen Kampagnen, um Widerstandskräfte zu schwächen; mit Arroganz und Überheblichkeit, um die anderen zum Schweigen zu bringen; und mit einem Vertragskorsett, das die Luft zum Atmen nimmt.
Es ist richtig: Schweizer haben im Jahr 2007 42,7 Milliarden Franken in Deutschland investiert gegenüber nur 22,8 Milliarden Franken, die Deutsche in der Schweiz investiert haben. Aber das sind nur die absoluten Zahlen. Relativ gesehen hat der deutsche Investitionsanteil ein viel grösseres Gewicht.
Etwa 1800 deutsche Unternehmen sind in der Schweiz tätig. Wem und welchen Zielen sind diese Unternehmen verpflichtet?
Es hat eine Zeit gegeben, da haben sich Unternehmer ihrem Land und den Menschen in ihrem Umfeld verpflichtet gefühlt. Ist das noch möglich in einer vagabundierenden Wirtschafts- und Finanzwelt, in der nur noch der Profit zählt?
Was ist davon zu halten, wenn mehr als 4000 deutsche Wissenschaftler an Schweizer Hochschulen tätig sind? 44 Prozent der Professoren an Schweizer Hochschulen sind keine Schweizer, und die Hälfte davon sind Deutsche. In der Deutschschweiz sind es sogar zwei Drittel. Mit welchem Geist begegnen diese Hochschullehrer dem, was die Schweiz ausmacht? Was geben sie an ihre Studenten weiter?
Direkte Demokratie, echter Föderalismus und bewaffnete Neutralität gegen europäischen Grössenwahn

Direkte Demokratie, echter Föderalismus und bewaffnete Neutralität zeichnen die Schweiz aus. Aber das passt nicht ins Wahngebilde eines zentralisierten Europas im Dienste des global vagabundierenden Kapitals; eines EU-Europas im Dienste eines Grossmachtwahns, in dem nicht mehr an das Wohl der Menschen, sondern nur noch an immer schneller, immer grösser und immer mehr gedacht wird.
Und was passiert, wenn das Wahngebilde zusammenbricht?

Und was passiert, wenn das ganze Wahngebilde wie ein Kartenhaus zusammenbricht? Jeder weiss: Die Zeichen stehen nicht gut. Soll dann vorher noch mit einem globalen Krieg die «Rettung des Systems» in der Kriegskonjunktur und der totalen Ausbeutung der anderen Teile der Welt gesucht werden? Wozu die immense Aufrüstung? Wozu das Zündeln an allen Ecken und Enden? Gerade jetzt zum Beispiel gegenüber Russland und China – gegen den Willen und gegen das Interesse Europas!
Not tut eine Rückkehr zu mehr Bescheidenheit …

Nach dem Zweiten Weltkrieg hat es in Deutschland als erste Reaktion auf das im Krieg Angerichtete einen Geist der Bescheidenheit und Zurückhaltung gegeben. Sehr viele haben sehr genau gewusst, dass sie zu lange Hitler und dessen Grössenwahn zugejubelt haben. Dafür haben sich viele Deutsche sehr geschämt. Und sie wollten sich ihrer Verantwortung stellen. Nie wieder Krieg … und nie wieder Kapitalismus – darin waren sich für eine kurze Zeit sehr viele einig. Seitdem sind mehr als 60 Jahre vergangen: 60 Jahre Gehirnwäsche, 60 Jahre Zuckerbrot und Peitsche. 60 Jahre bundesdeutsche Staatsräson: bedingungslos an der Seite der US-Politik, bedingungslos an der Seite der Politik Israels.
Zu vielen der deutschen Politik, der deutschen Industrie, der deutschen Finanzakteure, der deutschen Rüstungskonzerne, der deutschen Medien, der deutschen «Eliten» ist die Bescheidenheit abhanden gekommen, vor allem seit 1990. Und vor allem vielen Westdeutschen. Und wir anderen Deutschen? Was sagen wir dazu? Wo steht jeder von uns?
… zu mehr Realismus …

Gerade die Deutschen haben doch schlimmste geschichtliche Erfahrungen damit gemacht, wohin der arrogante Grössenwahn einer Machtclique führen kann: nur in den Abgrund.
… und zu mehr Zuversicht, dass auch die Deutschen frei sein können.

Es ist uns Deutschen aber nicht ins Blut geschrieben, dass wir immer Untertanen sein müssen. Die Deutschen können sich auch von denjenigen befreien, die sie beherrschen und regieren, die das Land spalten und von der Spaltung profitieren wollen, die nach der Grossmachtrolle gieren und andere Völker und Staaten bedrohen.
Indes: Auch wenn die deutschen Massenmedien darüber fast nicht berichten, im Grossteil der übrigen Welt hat die deutsche Politik ihr Ansehen verspielt, vor allem, seitdem die Regierung Merkel sich fast bedingungslos den Vorgaben aus Washington unterworfen hat. Es wurde erkannt, dass das Phänomen Merkel nicht mehr ist als eine massenmediale Inszenierung und PR-Kampagne. Eigene Substanz ist keine vorhanden. Und auch der Stern der Weltmacht USA verblasst. Wozu also weiter denen folgen, die keine Zukunft haben, und das zu Recht! •